15.4.07

22.11.2006

Heitmeyer im Interview mit der SZ zum Fall Sebastian, dem Amokläufer von Emsdetten:
„Heute können Lebensschicksale nicht mehr an gemeinschaftliche Benachteiligungen geknüpft werden. Jeder ist für sein Schicksal selbst verantwortlich, und das erhöht den Druck auf den Einzelnen maßlos. Heute kann man nicht mehr sagen: Ich bin nicht allein, anderen geht es genauso. Der Einzelne steht nur noch für sich. Das hat Vorteile, wenn er's hinkriegt, aber gravierende Nachteile, wenn er scheitert.
SZ: Wir reden doch gerade von einer neuen Unterschicht, einem Prekariat, der Generation Praktikum – die Klassen kehren zurück.

Heitmeyer: Aber die Klassensolidarität hat sich aufgelöst. Die Unterschicht ist ein Produkt der Statistik. Fragen Sie mal, wer sich stolz zur Unterschicht bekennt, Sie werden keinen finden. Das kollektive Bewusstsein ist weg, und es wird sich auch nicht wiederbeleben lassen."


Also man müsste sich überlegen, wenn man diesen Fall Sebastian, sein Leben sich alternativ denkt, fragt, was für andere Möglichkeiten hätte er gehabt, aus seinem Leben etwas zu machen:

Welche Alternative gibt es zur Undimension bürgerlich arbeitsamer Existenz über Schule und Beruf?
- Radikal anders leben: außerhalb der Arbeitswelt, Gelegenheitsjobs, mit ALGII, als „Freibeuter“
- ein entsprechendes Bewusstsein besitzen, gesellschaftliche Analyse, im Bewusstsein für neue und alternative Werte, das über eine Art von linkem Alkoholikersysndrom (das der Punks: "Ihr macht mich kaputt, ich zeigs euch") hinausgeht
- öffentliche oppositionelle Politik, Aktionen (was die Überflüssigen machen, geht in die Richtung)
- mit dem Gefühl von Schwäche und Angreifbarkeit leben können, Bescheidenheit

Ok, so kann man es andenken. Aber es ist eine mühsame Existenz. Ich selber habe es nicht geschafft. Immer wieder habe ich versucht, es in eine gesicherte Existenz einmünden zu lassen. Weil man dabei vereinzelt ist, allein, ständig angreifbar, weil man das oder jenes nicht erreicht hat, Kritik ausgesetzt, sich angreifen lassen muss. Oder dann wieder eingebunden und verpflichtet in Gruppen, deren Konkurrenzzwänge der Militanz.
Ich denke an die Schüler im Alter von 16, die sich durch die Schule hindurch quälen. Was kann ich ihnen empfehlen? Sie sollen die Schule machen, sich für einen Beruf qualifizieren, mit dem sie ihre Existenz absichern können. Sie sind noch im Übergang vom kindlichen Leben zum Erwachsenenleben, wo sich vieles noch als großes Weihnachten darstellt, die Gesellschaft wie bei Marx am Anfang des „Kapitals“ beschrieben als große Warenansammlung, Einkaufsparadies erscheint. Und sie werden noch gefüttert wie die kleinen Vögelchen mit Taschengeld, Geschenken. Sie haben Computer, TV und die meisten Eltern sehen darin eine pädagogische Niederlage.
Das Erwachsenenleben dagegen sieht die Welt anders: alles ist hart erarbeitet, in endlosen sich wiederholenden Arbeitsgängen, alles ist begrenzt (auch wenn die Erste Welt davon immer ein anderes Bewusstsein davon zu erzeugen versucht, aber selbst hier ist klar, es geht nur, wenn Du am Ball bleibst: die Frustration von Schule und Beruf erträgst, Dich beschränkst, einordnest, besser nicht zu viel Ansprüche stellst und Erwartungen hast).
Dazwischen gibt es einen Bruch. Durch die Erkenntnis über die wahren Verhältnisse: schlechte Noten, Erlebnisse von Außenseitertum, nicht akzeptiert werden durch eine Gruppe, Gleichaltrige, Erwachsene, Lehrer oder Eltern. Das Resultat ist Wut, Rachewünsche usw. Man kann nun versuchen, ein Leben jenseits seiner eigenen Illusionen zu führen, oder das ganze Projekt Leben aufgeben, oder in einem langen mühsamen Prozess, blöderweise „Selbst-„ oder „Identitätsfindung“ genannt, aus seinem Scheiten Konsequenzen ziehen: sich an die Arbeitsanforderungen anpassen, sich moderieren, bescheiden ohne dabei seine Ansprüche aufzugeben, d.h. sie als Kritik, politische Opposition zu kultivieren.
Die Schule ist die für solche Katastrophen wie in Emsdetten verantwortliche Instanz. Jetzt redet sie sich auf die Killerspiele raus. Klar da ist eine Sackgasse, ein Suchtfaktor. Die Virtualität verunmöglicht die Überlegung realer Alternativen. Aber die Schule treibt die Jugendlichen einerseits in die Katastrophe durch ihre Selektion und Disqualifikationsprozesse, andererseits gibt sie ihnen keine Möglichkeiten aus ihrem Scheitern produktive und lebenswerte Konsequenzen zu ziehen. Es ist eine bürgerliche Klassenschule.

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