18.10.07

EIN ELTERNABEND

Anfangs der 13ten Klasse soll eine Klassenfahrt stattfinden. Wozu, und warum nicht nach dem Abitur, hat keiner erklärt. Das ist eben immer so. Die Schüler dürfen über Ziele abstimmen. Es steht Istanbul gegen Sorrent. 9 stimmen für Sorrent, 8 für Istanbul. Die Mehrheit stimmt fürs Fliegen, gegen Bus und Bahn. Der Lehrer hat sich schon über Flugpreise kundig gemacht.
Beim Elternabend kommt es zu einer Diskussion. Die Frage ist, wie die Schule einerseits von Umweltschutz redet, dann aber als Krönung zum Baden fliegt, ohne dass es auch nur irgendwie in einem Zusammenhang mit einem Lernprojekt steht, sei es Geschichte oder Sprache. Die anderen Eltern fühlen sich angegriffen: Man könne ja sonst was für die Umwelt tun, etwa Papierchen im Wald sammeln. So ein Jäger. „Haben Sie etwa eine umweltfreundliche Heizung?“ – Ja, wir haben. Ein anderer meint: Die Schüler haben demokratisch darüber abgestimmt. Ich frage: Sind sie über die Konsequenzen ihres Verhaltens informiert, ist es ihr Geld? Ein anderer meint, vor kurzem wäre das mit Al Gore gewesen. Der würde auch jährlich für 30 000 $ Energie verbrauchen und sie selber würden nur einmal im Jahr fliegen. Das alles schlagende Argument wird aber ein Satz einer Mutter: Das Flugzeug fliegt, auch wenn unsere Kinder nicht mitfliegen.
Der Klassenlehrer, vom Typ des Pro und Contra, räsoniert: Ja er wisse um die Problematik der Billigflieger. Früher sei er auch immer mit dem Auto nach England gefahren, aber die Preise wären aber inzwischen so unschlagbar günstig. Er hätte sich auch überlegt, wozu überhaupt eine solche Klassenfahrt sein solle und ob man es nicht auch in der Nähe machen könnte. Aber ach … usw.
Diese Schule bildet vorwiegend zukünftige Techniker aus. Von „Technikfolgen“, sozialen und ökologischen Konsequenzen ist keine Rede. Es gibt Projekte zum Stirlingmotor, zur Wiederverwendung von Frittenöl im Autotank, ökologische irrelevante Spielereien. Aber diese Schule fühlt sich als Elite, zählt sich zu denen, die Ahnung haben und vermittelt dieses Gefühl auch ihren Schülern. Das soziale Modell, das sie vermittelt, ist sozialdarwinistisch. Man darf daraus keine Demokraten erwarten, die jedem Menschen die gleichen Rechte zubilligen.
Nach dem Abend bleibt bei mir das Gefühl, unzulänglich argumentiert zu haben, hoffnungslos zu einer ganz kleinen Minderheit zu gehören. Nicht angekommen ist etwa, dass jeder Mensch nur ein begrenztes und gleiches Anrecht auf Energieverbrauch hat. Oder dass die Schule die Aufgabe hat, über zukünftige gesellschaftliche Probleme zu informieren und nach neuen Handlungsmöglichkeiten zu suchen.
Bei den Lehrern und Eltern im Raum gab es:
- Dummheit - am meisten verbreitet. Motto: wir machen das immer so und werden das immer so machen, alles andere interessiert uns nicht. Das Nichtwissen ist hier gekoppelt mit dem Nichtwissenwollen. Stupidity is no handicap. Die Mehrheit gehört in diese Gruppe.
- Ignoranten, die fachidiotisch zugenagelt sind, sich aber trotzdem überlegen fühlen
- „Demokraten“, d.h. die die verstehen, die Meinungen und Bequemlichkeiten für sich zu instrumentalisieren. Das sind die Demagogen, die den Jargon der herrschenden Mediensprache beherrschen: „Ideologie“, „Mehrheit“ usw.
- Opportunisten - nicht dumm – passen sich aber an die jeweiligen Mehrheiten an. Sie lassen andere Standpunkte zu, nehmen sie wahr. Sie sind sozial am höchsten entwickelt.

Sind Autobahnen faschistisch?

Wieder taucht derzeit das Autobahnargument auf. Es diente in der Nachkriegszeit denen, die angegriffen sich gezwungen sahen, die Nazizeit zu verteidigen. Inzwischen ist es obsolet geworden. Wer es verwendet, stellt sich in die rechte Ecke. Das geht soweit, dass Wikipedia die Rolle Hitlers beim Bau der Autobahnen schlichtweg wegredet, obwohl er immerhin für den Ausbau eines Drittels der heutigen Strecken verantwortlich war. H.M. Broder, der sich für die Beurteilung des korrekten Antifaschismus als letzte Instanz zuständig fühlt, sieht keinen Zusammenhang zwischen Faschismus und Autobahn. Er darf sich das schon deswegen nicht zulassen, weil sich Israel mit einer Trans-Israel-Autobahn schmückt - zuungunsten palästinensischer Gebiete. Meine Frage ist also offen.

Man kann eine Autobahn aus zwei verschiedenen Punkten betrachten: als Entfernung oder als Annäherung.
Als Mittel der Entfernung ist sie Mittel für die rasende Bewegung, von den Futuristen als
angriffslustige Bewegung, Schönheit der Geschwindigkeit bejubelt, als Teil einer allgemeinen Militarisierung gefordert. Die im Auto erreichte Geschwindigkeit, das passive Vorwärtsbewegtwerden durch den Motor, ist eine Regression auf einen kindlichen Zustand, in dem man getragen wird, ein Wohl- und Glücksgefühl, das wohl viele oft vermissen mussten. Die Faschisten haben es verstanden dieses Defizit an positiven Selbstgefühlen durch ein Repertoire von Größenphantasien anzusprechen: die überlegene Rasse, der Blitzkrieger, die Luftwaffe und Raketentechnik, die Wunderwaffe, die grandiosen Masseninszenierungen, die Architektur, die Schlachtschiffe usw.
Der Faschismus, sei er rot oder braun, lebt von der Substanz der größenbedürftigen Individuen. Er bietet ihnen Erlebnisse von Grandiosität. Obwohl zur Nazizeit die Autobahnen eigentlich leer waren, haben sie doch durch ihre Grandiosität beeindruckt.

Das Andere ist die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Eigentlich gehört es mit zum Projekt des Größenwahnsinns. Es ist der metaphysische Traum, immer und überall sein zu können. Das, was bisher die Religionen versprochen haben, muss jetzt nach der Verstandeskritik die Technik einlösen. Durch die schnelle Verbindung entfernt liegender Orte mit Hilfe des modernen Verkehrs sollen die Grenzen und Unterschiede beseitigt werden. Die Landschaft, die am Auge vorbeizieht, verliert ihre Unterschiede. Es wird sogar nötig, um dem Fahrer ein Gefühl der Geschwindigkeit, mit der er rast, zu geben, die Ränder der Autobahn speziell zu bepflanzen.
In dem Maße, in dem die Raumgrenzen erweitert werden, wird die Besonderheit der Landschaft überwunden, Steigungen, Untergrund, Wendungen werden ausgeglichen. Eigentlich sollte es immer nur flach geradeaus gehen. Die faschistische Bewegung mag nicht das Relief, die mäandernde Bewegung. Tendenziell ist sie gerade, der Raketenflug das Optimum. Historisch ist das nicht neu, schon das römische Imperium hat das mit seinen Heerstraßen vorgemacht. Auf diesen römischen Straßen hat sich das Christentum ausgebreitet. Geradewegs hat es die Linie des Lebens ins Jenseits verlängert - die Himmelfahrt nahm den Raketenflug vorweg.
Die imperiale Bewegung gehört mit zur Zentralisierung und Gleichschaltung des Reichs. Während aber die Weiten erobert werden, etwa die unendlichen des Ostens, wird ein Heimatkult als kitschige Lüge zelebriert. Ebenso sentimentaler Mutterkult, während gleichzeitig in der Erziehung der Kinder durch Hitlerjugend, Schule, Gestapospitzelei, Eugenik, Armee und Napola die Familie zerstört wird. Dasselbe bei der Rolle der Frau: einerseits Mutterkult, andererseits die Verschickung der Frauen in Arbeitsdienst und Rüstungsindustrie. Wie immer, besteht Politik aus der Kunst der Lüge zur Ausweitung der Macht.
Die Faschisten haben nur das Projekt weitergeführt, das der moderne Rationalismus schon in der Aufklärung begonnen hat. Etwa in der Kanalisierung der Flüsse, der Städtearchitektur von Versailles, Berlin oder Barcelona. Das Besondere, Willkürliche, Individuelle und Unberechenbare soll zugunsten eines höheren Allgemeinen beseitigt werden. Es nennt sich „Ordnung“. Der Unterschied des faschistischen Projekts zum rationalen der Aufklärung besteht darin, dass es die imperiale Praxis mit gefühlvollen Phrasen verschönt: Heimat, Familie, Mütterlichkeit. So wie heute die Unterwerfung unter Moden, die Zwänge der Kapitalverwertung und Konkurrenz als „Individualität“ gefeiert werden.

Doch was hat damit einer zu tun, der auf der Autobahn fährt? Hat die AB heute doch eine andere Funktion, ist Teil der kapitalistischen Warenproduktion geworden. Die meisten dürften darauf „geschäftlich“ unterwegs sein. Das faschistische Erlebnis der schnellen Raumeroberung haben vielleicht noch die Urlaubsfahrer. Allerdings bleiben auch die oft im Stau stecken. Der Erlebnischarakter der AB schrumpft wie das religiöse Erlebnis im Rosenkranz. Das moderne Reisen gibt dem Reisenden das Gefühl, schnell überall sein zu können, aber genauso wie Landschaft gleichen sich auch die Ziele an, zu denen die Autos fahren. Das Erlebnis des Reisens reduziert sich bei dem heutigen Touristen oft auf das Suchen von Bildern, die er vor der Reise schon gesehen hat, auf das erwartbar andere Klima etc. Er kommt ohne Sprachkenntnisse durch, ohne sich mit der bereisten Region bekannt zu machen.
Was da sich historisch entwickelt hat, ist eine abstrakte kollektive Identität. Man kann sie von verschiedenen Seiten betrachten: etwa von der der Entwicklung der Wege und Straßen, des Verkehrs – oder in der Herausbildung eines mehr und mehr überregionalen Warenverkehr,
Kennzeichnend für eine solche abstrakte kollektive Identität ist, dass die Menschen dabei nur in einer sehr beschränkten Funktion aktiv sind. So ist etwa das moderne städtische Leben gegenüber dem vergangenen dörflichen Leben in seinen Beziehungen distanziert, bis hin zur Anonymität und dem Ausweichen vor näherem Kennenlernen. Weil sich aber jeder an allgemeine Regeln hält, ist trotzdem ein Zusammenleben möglich. Der moderne Bürger tritt in seinen Kontakten mit einer beschränkten Identität auf. Etwa in seiner geschäftlichen Funktion, oder in seiner privaten usw. Gerade im Internet mit weitgehend anonymen Schreibern und Lesern wird diese abstrakte kollektive Identität deutlich. Stellt man die Ausdrucksmöglichkeiten dem innerhalb des dörflichen Lebens gegenüber, wo jeder (beinahe) alles vom anderen weiß, wird klar, dass das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen, von Distanz und Nähe in den Beziehungen sich grundsätzlich geändert hat.
Es kann nun nicht darum gehen, wieder zum dörflichen Leben und zum Reisen zu Fuß als alleinigem Fortbewegungsmittel zurückzugehen, sondern zu begreifen, welche Veränderungen im Zusammenleben und im Selbstverständnis der Menschen stattgefunden haben. Die faschistische Identität bringt nur die Krisenhaftigkeit dieser Entwicklung zum Ausdruck. Es hat keinen Sinn, es nur als Ausdruck des Bösen zu denunzieren. Offensichtlich ist eine Dynamik am Werk – Resultat einer in sich gegensätzlichen menschlichen Natur, etwa von Verlangen nach Nähe und Distanz – die sich hier entfaltet und nach einem neuen Gleichgewicht unter veränderten historischen Bedingungen verlangt.

Wenn die Menschen in Funktionen der Warenproduktion auf der AB fahren, werden sie dadurch menschlicher? Dass einer Geld verdienen muss, wirkt selfevident und einleuchtend. Trotzdem kann es eine humane Grenze überschreiten, etwa in dem ungerechten Verbrauch energetischer Ressourcen, den ökologischen Folgen, den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Warenproduktion hat sich faschistische Elemente einverleibt, sie marktgerecht scheinbar assimiliert und gebändigt.
Die objektive Funktion – Transport von Waren – hat sich von den subjektiven Motivationen – Geschwindigkeitsrausch, der imperialen Geste – gelöst. Die alten faschistischen Ziele sind als nützliche Elemente vom globalisierten Kapitalismus integriert worden. Das Imperium hat die Grundlagen für den Weltmarkt geliefert. Der große Führer ist von vielen kleinen Imperatoren abgelöst worden.

8.10.07

NATURSCHUTZ MIT DEM AUTO

Seit einigen Jahren interessiert mich die Fauna in der Umgebung und ich mache immer wieder neue Entdeckungen. Deswegen fahre ich 30 km mit dem Rad zu einer Führung durch ein spezielles Biotop. Dort wird mir vom Leiter gesagt, dass es zwecklos wäre mit dem Rad zu fahren. Immerhin fahre man 8 km weg und bis ich mit dem Rad an den Treffpunkten wäre, wären die Erklärungen schon gelaufen. Den Fall hatte ich eigentlich erwartet und mir vorgenommen, in dem Fall gleich wieder zurückzufahren, aber die unverhohlen verächtliche Abneigung gegenüber Radfahrern provoziert mich nun doch an der Führung teilzunehmen. Bei jedem Treffpunkt bin ich zuerst da, sehe die Tiere, die dann durch die Autos wieder verscheucht werden oder nicht gesehen werden können.
Ich erfahre dann auch viel über die Bedeutung der Gene und dass die Erde zuwenig Platz für alle Menschen bietet, weswegen Hunger unausweichlich ist. Als ich meine, dass mindest so viele an Überfettung sterben wie an Hunger, ernte ich strengsten Widerspruch. Gerne hätte ich noch erwähnt, dass inzwischen mehr Lebensmittel weggeworfen als gegessen werden.
Die Zerstörung von Lebensräumen für Tiere und Pflanzen hängt weitgehend zusammen mit der Produktion von Überfluss, mit der Angst vor körperlicher Bewegung und Arbeit. Obwohl die Naturschützer an Natur immerhin interessiert sind, sehen sie nicht ihre eigene Rolle an der Naturzerstörung, geben stattdessen die Schuld den Bauern, eingewanderten Tierarten usw.

7.10.07

LEIDEN AN HARTZ IV

Eine Person, die einige Zeit arbeitslos war, fasst ihre Erfahrungen in diesen Statements zusammen:

Verabschiede Dich als erstes von Fachgeschäften oder Supermärkten mit Markenartikeln
Du wirst an Gewicht zunehmen
verabschiede Dich von Deinem Auto
Du wirst Freunde verlieren
Du hast einen Kredit laufen
Du wirst weniger und/oder recht ausgefallenen Sex haben
Du wirst einen Imagewandel durchleben
Kleidung kannst Du ab jetzt nicht mehr kaufen
Dein Wesen wird sich verändern. Moral und Ethik werden Dir sehr zweitrangig erscheinen. Du hast keine Skrupel mehr, schwarz zu arbeiten
Du wirst sehr kreativ und einfallsreich werden


Was hier beklagt wird, zeigt das Elend zeigen, in das Menschen, präpariert durch die Mittelstandskultur geschult, hineingeraten. Dabei besteht das Elend nicht darin, von Hartz IV leben zu müssen – das ist möglich – sondern in der Unfähigkeit, damit produktiv umzugehen. Einmal privat, dann politisch. Privat wird die Zeit der Arbeitslosigkeit als Durchgangsphase erlebt, als individuelles Unvermögen. Dann ist es Abstieg, Imageverlust, gesellschaftlicher Ausschluss. Der, der es so erlebt, denkt in individuellen Kategorien, er hat keinen gesellschaftlichen Maßstab, keine Ordnungsidee. Hätte er das Prinzip, dass jeder Mensch die gleichen Rechte hat, dass keiner ausgeschlossen werden darf, jeder „teilhaben“ soll (so die Sprache der Erben- und Besitzergeneration), dann würde sich aus seiner Lage die Forderung nach Gesellschaftskritik und politischer Praxis zwingend ergeben.
Das bedeutet, dass für den, der die Arbeitslosigkeit „erleidet“, wohl gilt, dass er in seinem Charakter dadurch geprägt ist, dass er zugehörig ist zu denen, die stolz auf ihre individuelle Leistungen, Persönlichkeit usw. sind, mit der sie sonst immer so schön im gesellschaftlichen Mainstream gelebt haben. Dieser Mainstream bedeutet: gehobenen Konsum (Fachhandel, Markenartikel), Kredit, nicht Vorsorge, teure Kleidung als wichtig für das Selbstbewusstsein, Essen als Zeichen von sozialem Status. Die Hierarchisierung der Supermärkte dient der gesellschaftlichen Differenzierung und um sich als gehoben abzugrenzen.
So wird die Arbeitslosigkeit zum Elend. Geht sie vorüber, bleibt sie ein Schock, meist nur individuell verarbeitet. Entweder als Angst, dass es wieder passieren könnte, oder als Stolz, diese Situation durch eigene Leistung wieder gemeistert zu haben, mit Verachtung für jene, die darin hängen bleiben.

Wie könnte die Arbeitslosigkeit positiv bewältigt werden kann. Ein
Beispiel wäre etwa die Besetzung der Kölner Arge. Aber auch eine solche Aktion, auch die der Überflüssigen, gerät in den Sog von Armutskampagnen. Hartz IV muss zwar erweitert werden, vor allem im Erziehungs- und Bildungsbereich, aber letztlich muss die Forderung nach Hartz IV für alle gestellt werden. Arbeitslosigkeit müsste Anlass sein, sich kollektiv Gedanken zu machen über
- gerechte Verteilung von Arbeit
- sinnvolle und sinnlose Arbeit
- Leben außerhalb des konsumistischen Mainstreams der Mittelschicht
- Aktionsformen gegen die Agenturen der sozialen Differenzierung.

Allerdings ist Arbeitslosigkeit für die einen ein Durchgangsstadium, deswegen kein politischer Bezugspunkt. Die anderen, für die Arbeitslosigkeit ein Dauerzustand ist, sind nicht in der Lage, politisch aktiv zu werden. Bei ihnen läuft die Interessenvertretung nur über Ersatz-Ichs, Sozialarbeiter, Alkohol usw.
Von Arbeitslosen lancierte Themen hätten nur dann eine Chance, von den Menschen als seriös behandelt zu werden, wenn sie in den Medien präsent wären. Eine schöne Idee hat keinen Wert, wenn sie nicht in den Medien als seriös dargestellt wird. Aber die Öffentlichkeit ist an die Mittelklasse verfallen. Deswegen haben solche Ideen, wie ich sie hier überlege, keine Chance. Nie.
Was bleibt, ist unter Protest von den herrschenden Verhältnissen Abstand zu nehmen und individuelle Lösungen zu suchen. Das, was sich in der Realität abspielt, kann doch nicht die Wahrheit sein.


FRAUENKOMMENTAR
Im Radio wird ein Kommentar zu der Forderung nach Verlängerung des ALG I für Ältere angekündigt. Eine Frau soll kommentieren. Ich kenne sie nicht, die Frau Sabrina Fritz, aber sofort weiß ich, was ich zu erwarten habe: neoliberales Geschwätz.
Und tatsächlich erfahre ich: Hartz IV ist gut, weil damit dafür gesorgt wird, dass die Leute jede Arbeit annehmen. Hartz IV ist dafür da, die Löhne nach unten zu drücken… - Aber warum sind Frauen, die in solche Positionen kommen, so reaktionär? Sicher, sie haben eine bürgerliche Herkunft. Nur solche, die besonders aggressiv und konkurrenzgeil sind, kommen in solche Jobs. Sie haben die richtigen Beziehungen. Sie haben sich mit vielen Opfern – etwa Beziehungen, Kinder usw. - hochgearbeitet und glauben sich jetzt im Recht, das von den anderen auch zu fordern. Oder sie spielen jetzt ihren Vorteil aus und genießen es, an andere Forderungen zu stellen, denen nur sie selbst nachkommen konnten. Außerdem werden sie gerne von Männern im Hintergrund als Sprachrohr ihrer Meinungskampagnen benutzt.
Ein solcher Rundfunkjob erfordert übrigens folgende Qualifikationen:
In Arbeitsmarktfragen liegt eine weitere Kompetenz von Ihnen. Sie sind sicher in der Moderation und haben Liveerfahrung. Nichts steht drin über Erfahrungen, mit Hartz IV zu leben, Teilzeit, 1 Euro und 400 € Jobs, im Niedriglohnsektor, in dem Frauen die Mehrheit bilden. Live ist nicht reales Leben.

Vielleicht sind diese Frauen aber nur so reaktionär wie die Männer um sie herum Mir fallen sie aber besonders negativ auf, weil in mir vielleicht doch die Illusion versteckt lebt, dass sie als das „schwächere“ oder „weichere“ Geschlecht weniger barbarisch als die gewöhnlich ohnehin gedankenlos in ihre Triumphe verliebten Männer sind.
Aber das war eine Illusion, mit der schon viele Kinder gescheitert sind.

3.10.07

Abschied von André Gorz

Die Frage nach der Nachricht von seinem Tod war, was er mir bedeutet hat. Zunächst habe ich nichts Markantes gefunden. Einiges von ihm habe ich gelesen, einiges hat sich im Gedächtnis gehalten. Etwa die Beschreibung des Trends, die verfügbare Zeit in Lohnarbeit umzuwandeln, um damit wieder belohnte Dienste zu bezahlen. – Aber gefehlt hat mir der aggressive Angriff auf die Verantwortlichen dieser Tendenzen.
Da war sein Buch „Ökologie und Politik“. Entweder habe ich es mit blindem Verstand gelesen, oder da es stand nichts Entscheidendes drin.
Dabei – lese ich die Nachrufe – hat er einiges gesagt, was ich selber praktiziere: die Reduktion der Lohnarbeitszeit, die Übernahme normalerweise bezahlter Arbeit in Eigentätigkeit. Das reicht vom Brotbacken, Kochen über Kinderbetreuung, Mobilität, Garten bis zum Hausbau.
Gorz, so Martin Kempke in der taz, beschreibt „den unvermeidlichen Niedergang des männlichen, vollzeitbeschäftigten Lohnarbeiters … und (empfahl) der Linken …, ihre Fixierung auf die traditionelle Lohnarbeit aufzugeben. Eine emanzipatorische, auf individuelle und soziale Freiheiten zielende politische Strategie müsse über die inhaltlichen und sozialen Grenzen der traditionellen Arbeiterbewegung hinausreichen und die Anregungen der Frauen- und der Ökologiebewegung berücksichtigen.“

Was ist daraus geworden?
Der männliche Lohnarbeiter, hat sich seine Lage grundsätzlich verändert? Er ist genauso in der Krise, wie die anderen. Betroffen sind vor allem die „Unqualifizierten“.
Die Frauenbewegung hat sich in dem Verlangen nach Job und Lohn dem Konkurrenzprinzip des Kapitalismus unterworfen und angepasst, es nicht verändert, sondern verschärft. Dabei wurde nicht einmal geschafft, Zeit für Erziehung von Kindern, die Beteiligung der Väter etwa durch Überstundenverbot usw. einzufordern. Stattdessen läuft das Projekt der Rationalisierung der Erziehung in kapitalistische Verwertungszusammenhänge. Erziehungszeit und –Geld wurden von der CDU eingeführt.
Und die Ökologie? Sie ist da relevant geworden, wo sich mit ihr ein Geschäft machen lässt. Etwa im Bereich der Energie, bei der Erzeugung und Einsparung im Baubereich. Aber das hängt mit der Verteuerung der Energie zusammen. Wo die Verschmutzung und Zerstörung der Erde billig ist, läuft sie ungehemmt weiter.
War das ein Grund, sich vom Proletariat zu verabschieden? Bringt uns die neue „immaterielle Produktion“ den Sozialismus? Kann man da neue selbstbestimmte, demokratische Arbeitsstrukturen erkennen? Leben die „Produzenten“ in diesem Bereich bescheiden und genügsam von nachhaltig erzeugten Produkten?
Es hat keinen Sinn, sich vom „Proletariat“ zu verabschieden. Genauso kann man sich vom Leben selber verabschieden. Der Reichtum, von dem die Intelligenz lebt, wird von der Arbeiterklasse erzeugt, sei sie männlich, weiblich, chinesisch oder deutsch.
Es mag Individuen geben, die das Bewusstsein von Ungerechtigkeit und Unfreiheit, das Verlangen nach anderen Beziehungen im Kopf haben, aber Sozialismus ist nur als der einer Arbeiterklasse möglich.
Die Vorstellung von Gorz einer dualen Ökonomie, auf der einen Seite der „sozialistisch“, befreite Freizeitbereich, auf der anderen Seite die immer mehr reduzierte Arbeit im kapitalistischen Verwertungszwang, ist ein Denkspiel - von Heinz Weinhausen nicht schlecht mit „Sphärenklänge“ beschrieben. Unter den gegebenen Voraussetzungen bin ich notgedrungen ein praktizierender Anhänger dieses Modells. Aber es muss durch die Konfrontation mit der Realität ergänzt werden. Es sollte mehr als ein Diskurs unter Intellektuellen sein.

1.10.07

ARBEITSERFAHRUNG

J. Schmierer, der 1970 mit Maozitaten, Ruf nach Partei usw. tönte, inzwischen zum Berater im Außenministerium aufgestiegen, will in einer Betrachtung der 68er ihre Internationalität herausstreichen. – OK -. Dabei berichtet er von einem Erlebnis auf einer Baustelle, wohl in Berlin August 61. Es gibt eine Diskussion über Hitler. Dabei stellt sich heraus, „dass der ganze Trupp das hohe Lied auf Hitler sang, außer dem Polier“, dieser Polier aber meint dann, 6 Millionen wären zuwenig gewesen, man hätte noch mehr Juden umbringen müssen.
Die Geschichte hat mehrere Seiten.
Zuerst verweist Schmierer auf Erfahrungen mit der realen Arbeiterklasse. Er unterstreicht damit, so wie ich in diesem Blog, die Bedeutung seiner Aussagen.
Dann aber beschreibt er ein moralisches Defizit der Arbeiter. Es hat aber zwei Aspekte: Einerseits ist es real, andererseits dient es als Rechtfertigung für die Herrschaft der sich über sie stellenden Mittelklasse. Sie schafft sich dadurch die moralische Hoheit und Überlegenheit in Medien, als Pfarrer, Lehrer etc, aber auch in linken leninistischen Parteien und Ideologien von Lukacs bis Mao.
Der Faschismus war keine Sache einer bestimmten Schicht oder Klasse, hatte aber einen signifikanten Mittelstandsbauch. Nach der Niederlage wurde reingewaschen. Hitler wurde zum Proleten erklärt und der Philosemitismus zur Eintrittskarte in die reformierte bürgerliche Gesellschaft, die von Hitler abrückte und sich den Siegern anschloss. Die neue politische Form, sich seine Privilegien zu sichern, war jetzt die parlamentarische Demokratie.
Es ist nicht so, wie mit Schmierer viele nahe legen wollen, dass die Eliten faschistisch waren, etwa die prügelnden Lehrer. Nein - die hatten sich bis auf Ausnahmen in der Regel reorientiert, reedukiert, hatten sich an die neuen politischen Verhältnisse angepasst. Man sehe sich nur die Leutnants von Augstein bis Strauß an. Diese Neuorientierung geschah häufig mit Hilfe der Projektion und Verfolgung eigener faschistischen Anteile auf andere: die Kinder, die Arbeiter, die Rechten usw. Gerne wurde von den Eliten später etwa Klemperers Bild von Hitler als kulturlosen Proleten aufgenommen.
Dazu kommt, dass die Arbeiter oft an dem Syndrom der heteronomen Sekundärtugenden: Treue, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit usw. leiden. Ein Grund, weswegen sie im Gegensatz zu den beweglicheren Eliten zu einem Mann hielten, dem eine ganze Nation die Treue geschworen hatte und viele Millionen von Deutschen ihr Leben geopfert hatten.
War Hitler ein Prolet? Er hatte sicher proletarische Züge: das Geschrei des in Rage geratenen - die Rage ein psychotisch-hysterischer Fantasiezustand -, die Phrasen, die kleinbürgerliche Sucht nach Großbürgerlichkeit, die Orientierung an Rache und Revanche, das aggressiv brutale Auftreten. Aber er war kein Arbeiter, hat sich nicht als Teil einer Gesellschaft verstanden, die sich ihr Leben und Zusammenleben über Arbeit organisiert. Seine Motive waren Raub und Ausbeutung, Überlegenheit und Dominanz, waren von Anfang an Rache und Vernichtung.
Weswegen identifizieren sich Arbeiter noch 61 und auch später mit Hitler, mit Forderungen nach Todesstrafe, mit Antikommunismus, mit einer Bereitschaft zu Unterdrückung? Es ist die Identifikation mit der erfahrenen eigenen Unterdrückung, der unbarmherzigen Härte in Erziehung und Arbeit. Die unterdrückte Wut sucht nach Gelegenheiten zur Rache an anderen Opfern, vor allem bei denen, die nicht das gleiche Schicksal ertragen mussten.

Aber auch die Identifikation mit Opfern, sei es mit Jesus oder Luxemburg, verrät eine Geschichte der immer noch bestehenden Gewalt gegen Menschen. Sie ist solange nicht beendet. als sie als Drang nach Apokalypse, Tod und Rache fortbesteht. Immer wieder taucht der Wunsch nach der großen Abrechnung, einem Jüngsten Gericht auf. Die scheinbare Identifikation mit den Opfern des Faschismus, wie sie zur Phraseologie des neuen Deutschlands gehört, verweist auf neue Gewaltverhältnisse.

Wie gesagt, leben viele Arbeiter in einer heteronomen Welt, d.h. in einer Welt von Abhängigkeit mit dem Bedürfnis nach Anerkennung durch Autoritäten, sei es der Arbeitgeber oder Familie oder Öffentlichkeit. Gemischt ist dieses Bedürfnis freilich mit der Realität der Enttäuschungen, der Konfrontation mit Misstrauen und Ablehnung, Ausbeutung, Entlassung oder Drohungen. Moralische Autonomie kann nur dort idealtypisch existieren, wo weder Druck von außen noch von innen ist, also ein entspanntes Verhältnis zur sozialen Umwelt besteht. Die Erfahrung von permanenten Demütigungen macht einen objektive Moral schwierig. Es ist nicht so, dass dies der Mittelschicht alles fremd wäre, aber ein befriedigenderes Leben macht Moralisieren leichter.
Dass es bei den Arbeiten - und anderen Schichten - auch 15 Jahre nach Ende des Faschismus immer noch Verteidiger Hitlers gab, zeigt auch, dass eine offene Diskussion über die Werte des Faschismus nicht stattgefunden hat, auch nicht über die neue Gesellschaft. An die Stelle der Auseinandersetzung um gesellschaftlicher Werte ist die ökonomische Entwicklung, das „Wirtschaftswunder“ getreten.
Wie aber ist es dem Faschismus gelungen, die Arbeiter so an sich zu binden? Ein Großteil der bis 1945 30jährigen, also Jahrgänge 1915 und jünger, hat im Faschismus seine Lehre und Ausbildung gemacht. Anschließend waren sie in der Regel als Soldaten im Krieg. 1961 waren sie ungefähr um die 40. Sie haben keine Beziehung mehr zu Gewerkschaften und linken Parteien gehabt. Die faschistische Arbeitsorganisation hat den Arbeitern zwar ihre Köpfe genommen, aber die Arbeiter eher pfleglich und mit Respekt behandelt. Auch ist es den Faschisten gelungen, rebellische und antibürgerliche Motive zu integrieren. So weitgehend, dass heute nichtbürgerliche Verhaltensweisen (Nähe statt Distanz, Inhalte vor Form, Ehrlichkeit vor Höflichkeit, Volksmeinung statt Elitenkultur) schnell als „faschistisch“ denunziert werden können.
Die betonte neue „Bürgerlichkeit“ – auch in der Begründung mit Elias´ Kulturtheorie - versucht, den Faschismus in einer falschen Weise ungeschehen zu machen. So als ob darin nicht Probleme und Motive aufgebrochen sind, die die bürgerliche Gesellschaft in sich enthält, aber unterdrückt hat.
Offensichtlich ist es den Faschisten gelungen, Lebensmotive anzusprechen, die den Rahmen ordentlicher Arbeit, mechanisierter und maschinisierter Beziehungen überschritten haben: Eroberungen ins Neue, Siege, Triumphe. Ich denke hier nicht weiter, es ist ein gefährliches Gebiet. Offensichtlich ist es eine treibende Kraft in Geschichte und Gesellschaft. Es hat keinen Sinn, es nur moralisch zu diskreditieren und zu glauben, sein Bann wäre damit gebrochen.