27.8.08

ARBEITER - ERFAHRUNG

Was ist die spezifische Erfahrung, die die Arbeiterklasse von der bürgerlichen unterscheidet?
Wesentlich die Erfahrung von gesellschaftlicher Unterlegenheit, Ausgegrenztheit und Ohnmacht. „Wir da unten, die da oben“ hieß das einmal. Inzwischen ist diese Erfahrung durch die Individualisierungsprozesse in Schule und Betrieb zu einer Erfahrung von „Ich da unten, Ihr da oben“ geworden. Den Arbeitern wird durch beständige Drohung von Entlassung, durch die Lohnentwertung und die Lohnherabsetzung in Tarifverträgen gezeigt, dass man auf sie verzichten kann. Die, die sich relativ sicher fühlen können, sind es durch die Institutionen des Sozialstaats, Kündigungsschutzgesetzen, tariflichen Regelungen auf quasistaatlichen Ebenen, auf denen Arbeiter nur als Protestmaterial eingesetzt werden, aber keinen aktiven Einfluss nehmen. Die Selbsteinschätzung als gesellschaftlich bedeutungs- und einflusslos teilen die Arbeiter mit den Angestelltenschichten, die anders als die Wortführer der Mittelschicht nicht die Marktflexibilität und materielle Ressourcen besitzen um gegenüber ökonomischen Prozessen souverän zu sein.
Dieser Ohnmachtserfahrung wird gegengesteuert durch Identifikationen, wie sie dem friedensliebenden Gemüt von den bürgerlichen Institutionen dem unglücklichen Individuum angeboten werden: die Phrasen der Marktwirtschaft, über den unvermeidlichen technischen Fortschritt, die Notwendigkeit von Führung und Selektion und die hohe Bedeutung individueller Verantwortung.
Die gesellschaftliche Defiziterfahrung, also die von eigener Minderwertigkeit, Erfahrung von Ablehnung bis hin zur Verachtung, die Erfahrung Incommunicado zu sein, also einer, mit dem man nicht spricht, dem man nur Befehle erteilt, führt zu einer Verarbeitung, zu einer Reaktion. In der Regel ist das der Rückzug aus der Öffentlichkeit, aus dem bürgerlichen Diskurs, auch der Demokratie. Die Erfahrung, dass andere die gleiche teilen, wird durch die bürgerliche Öffentlichkeit und ihre Medien verhindert – ist ja ihre eigene Schuld, ihr Problem, ihr Defizit – und es kommt soweit, dass die minimalen Differenzen zwischen den Arbeitern als Vor- oder Nachteil empfunden werden und die gegenseitige Identifikation und Solidarität verhindern.
Die Versuche, das mit politischem Klassenbewusstsein zu korrigieren, sind durch deren Formen der Elitenbildung und Gewalt unglaubwürdig geworden.
Was bleibt, ist Skepsis, bis hin zu einem negativistischen Ressentiment, gegenüber allen Führern, Politikern und eine stille Weigerung, sich an deren Geschäften zu beteiligen.
Die bürgerliche Pädagogik und Psychologie definieren das als Misserfolgserwartung und negative Einstellung, die durch Passivität und Misstrauen die Resultate mitbewirkt, die sich dann in einer selffulfilling prophecy real einstellen. In diesen Theoremen wird individuellem Handeln unterstellt, es könne die Klassenlage verändern. (Aber von „Klasse“ darf man ja nicht reden, das ist „Ideologie“).

VOM SOZIALEN ZUM PHYSISCHEN TOD

Der Arbeiter erfährt durch diverse Qualifkationsprozesse seinen sozialen Tod. Zuerst hat er in der Schule nachzureden, was ihm vorgesagt wird. Wenn ihm das nicht glückt, wird er nach und nach zu einem, der nicht mehr gefragt wird und nicht mehr gefragt ist. Aus der Öffentlichkeit verschwindet er als Erfolgloser ohnehin, denn die Menschen interessieren sich nicht für die Fehler- und Mangelhaften. Das ist ein natürliches Gesetz der Evolution, einer Parodie des sich ständig revolutionierenden und weiterentwickelnden Kapitalismus. Gefragt ist Pfiffigkeit und Cleverness. Beim körperlich Arbeitenden wird nach und nach seine soziale Existenz überflüssig. Schon vom Chef gegrüßt zu werden, wird rar. Auch die eigenen Kinder merken bald, dass es kompetentere als die eigenen Eltern gibt. Wer noch bei etwas Verstand ist, weiß, dass es zu Geschichte und Sein nicht wirklich Intelligentes zu sagen gibt und das, worauf man als Eigentümer noch die Hand drauf hält, eine vorübergehende Beziehung ist. Als Teil einer Maschine mag man noch andere beeindrucken und das Gefühl von Bedeutung und Nutzen haben, aber sobald dieses Kapitel abgeschlossen ist, verkriechen sich die zu Rentnern gewordenen Arbeiter vollends in die Sprachlosigkeit. Der Körper, der nicht mehr gebraucht wird, zerfällt.
Die Lebenserwartung der gering Verdienenden liegt um 6 bis 10 Jahre niedriger – abhängig von der Klassifikation – gegenüber den besser Verdienenden.
Indem die Geringverdiener früher sterben, erweisen sie den Besserverdienenden einen nützlichen Dienst und subventionieren deren Renten und Pensionen. Die Gesellschaft könnte ihnen zumindest mit einer Plakette auf dem Grabstein danken. „Danke für den frühen Tod. – Der Bundespräsident im Namen der Besserverdienenden.“

SOZIALE ISOLIERUNG
gehört in diesen Zusammenhang. Die Gesellschaft, im aktuellen Fall die über Konsum und Qualifikation kapitalistisch strukturierte, grenzt die potentiell Nutzlosen aus ihrer Kommunikation aus. Da man sie dank Chinesen, Öl und Maschinen nicht mehr braucht, lässt man sie mit Sozialhilfe vergammeln. Das gibt ihnen zu fühlen, wie abhängig, gnädig und wohlwollend sie vom Sozialstaat behandelt werden.
Rebellen, die ihre linke politische Haltung nicht im Zusammenhang bürgerlicher Individualisierungsspielchen, sei es etwa Antifa oder Antideutsch, ausagieren, können sich als aussichtslos, bedeutungslos, negativistisch usw. ohnehin vergessen.

EIN NEUER
Seit einigen Tagen mit einem neuen Mitarbeiter konfrontiert, Ersatz für den Vorarbeiter, klanglos abgegangen ist. Ich nehme es ihm nicht übel.
Ich habe versucht, den Neuen anzusprechen. Wie denn die Arbeit wäre, ob es nicht anstrengend wäre, 8 Stunden lang zu hetzen. Aber er war nur kurz angebunden, er hätte vorher 16 Stunden am Tag gearbeitet, da wäre das keine Kunst. (Gescheiterter Selbständiger?). Und dann hatte er es eilig. Am Abend ergibt sich dann auch keine Gelegenheit mit ihm zu sprechen, weil er erst nach Arbeitsende im Umkleideraum auftaucht und ich dann schon bei der Stempeluhr bin. Auf Pünktlichkeit lege ich Wert. Inzwischen, nachdem ich sehe, wie er hetzt und springt, wie er – wahrscheinlich eingelernt durch den alten Vorarbeiter – die Maschinen unsinnig belädt, habe ich auch kein Interesse mehr, mit ihm viel zu reden. Ich trau ihm nicht. Meine Tage habe ich ohnehin schon gezählt.

Wie soll Solidarität möglich sein?

17.8.08

ver.di – BSIRSKE

Wenn ich schon nicht mehr weiß, wie es politisch weitergehen soll, so lebt in mir doch die alte Lust auf, die linken Institutionen zu kritisieren: Verrat, Betrug etc. Dieses Gefühl – man mag es Ressentiment nennen – und diese Klage, entspricht meinem Naturell und auch meiner defizitären Sozialisation am besten. Ich habe es von meiner Mutter gelernt: „Uns hat man hintangesetzt und wird uns benachteiligen, ein Leben lang. Da kannst Du machen, was Du willst.“ Mit viel Verve habe ich in meinen überpolitischen Jahren diese reaktionäre Resignation bekämpft, die den Fortgang der Verhältnisse durch Tatenlosigkeit unterstützt. Aber ich fühle heute dasselbe Lichtlein in mir glimmen – oder ist es mehr ein kleines schwarzes Loch?
Aber zur Sache: verdi-Chef Bsirske fliegt per Freiflug nach Los Angeles, na ja - Erste Klasse. Als stellvertretender Aufsichtsratvorsitzender der Lufthansa AG kein Problem. Ich reibe mir die Augen. Das wusste ich nicht, das hätte ich nicht mal erwartet. Ein FDPler meint: Das geht doch nicht: Aufsichtsrat und Streikleiter! („Streik“?? War das ein „Streik“? War eine tolle Idee, den Flugverkehr zusammenbrechen zu lassen. Jetzt weiß ich, warum daraus eine so miese Sache geworden ist.) Ich grüble nach und denke, dass es doch nicht Sinn einer Mitbestimmung sein kann, Fliegen auch nur in irgendeiner Form zu unterstützen.
Na klar, was ist ver.di doch für ein Verein: die letzten Tarifabschlüsse, bewirkt durch die Streikaktivität der einfachen Mitglieder und der Arbeiter – die besserverdienende Mehrheit wird man nicht dabei finden – begünstigen mit ihren Prozentklauseln wieder einmal die oberen Ränge, bescheissen die Arbeiter. Zwar wurden die Arbeitszeiten unten gehalten, aber gleichzeitig ein Tarifsystem unterstützt, das Neueinsteiger brutal benachteiligt.
Der marxistische Verstand in mir sagt zwar, dass Gewerkschaften eben Elemente des Kapitalismus sind, aber im gewerkschaftlichen Kampf ist doch mehr drin als (gutes) Überleben im Kapitalismus: Bildung eines politischen Bewusstseins, Kommunikationsorgan von Lohnabhängigen, Demokratisierung betrieblicher Strukturen. Aber Pustekuchen. Mit 14 habe ich als Ferienarbeiter mit Gewerkschaftsblättchen auf der Suche nach etwas Vorwärtsbringenden den Mittagsschlaf vorbereitet – Gewerkschaftsvertreter hatten durch das Austeilen der Zeitung und Einsammeln von Beiträgen noch Präsenz und Gesicht. Beim Studium habe ich noch an die Gewerkschaft geglaubt, lernte aber die professoralen Agenten der Böckler-Stiftung und ihr Beziehungsgeflecht und überflüssige Studien kennen und hatte genug davon. (Eberhard Schmidt ausgenommen). Zwar habe ich viele Jahre Gewerkschaftsbeiträge bezahlt, aber sehe heute keinen Sinn mehr, diesen Verein der Besserverdienenden zu unterstützen.
Was tun? Aussichtslose RGO-Projekte? In die Korruption geraten wie „plakat“? Konkurrierende Gewerkschaften wie in Frankreich, die um einiges mehr erreicht haben?
Ist doch hier alles sinnlos.

12.8.08

Blockade

Ich bin derzeit blockiert, zähle die Tag rückwärts bis zum Ende meines Jobs. Die Überlegungen über Simbabwe nehmen mich derzeit gefangen. Die Art und Weise, wie eine zukunftsfrohe und offene Gesellschaft in nicht vorhersehbare Barbarei zerfällt, ist für mich schockierend. In dem Konflikt dort wird auch etwas über unsere Verhältnisse klar: die Bedeutung der Lohnarbeit in der gesellschaftlichen Entwicklung. Gegenüber der „Barbarei“ der feudalen Verhältnisse scheint sie fortschrittlich zu sein, obwohl sie doch genauso Barbarei impliziert; die Verödung der Welt, die Mechanisierung des Menschen zum Teil einer arbeitsteiligen Maschinerie.
Ein „feudal“ denkender Simbabwer würde sagen: Die Welt ist nicht das Resultat von Arbeit und Intelligenz, sondern ist Natur die angeeignet und erlegt werden will. Der Begriff der „Aneignung“ gehört wesentlich zu dieser Gesellschaft. In der europäischen Geschichte hatte dieser Vorgang eine anderen Namen: Lehen und Gabe. Die Erde ist eine Gabe Gottes, die von Papst und Kaiser weiter geliehen werden. Diese reichen Teile davon als Lehen nach unten weiter. Die Religiösen tun sich noch heute dadurch hervor, dass sie Dankbarkeit betonen. Jede Mahlzeit umschließt ein Dankgebet, aber keinen Dank an den Bauer oder Arbeiter, der sich dafür abgeschuftet hat.
Diese so zustanden gekommenen Eigentumsverhältnisse sind andere als solche durch Arbeit (und dann Tausch). Es kommt zu einer anderen Legitimation; der durch Gewalt, durch Übermacht, auch durch eine politische Machtposition. „Wie kann ein Wahlzettel stärker sein als ein Gewehr?“ fragt Mugabe und da trifft er sich mit Lenin und Carl Schmitt. (Carl Schmitt soll mit seiner „Theorie des Partisanen“ Dutschkes und Krahls Organisationsthesen Pate gestanden haben). In Simbabwe trifft die Bevölkerung, die Lohn verdient und in Marktkategorien denkt, auf den Widerstand der „Traditionalisten“, die nimmt, was da ist, sich um Produktion nicht kümmert – Arbeit ist die Sache von Frauen und Kindern. Recht ist Vorrecht.
In unserer Gesellschaft liegen unterhalb der marktwirtschaftlichen Beziehungen („Bezahlung nach Leistung“) diese feudal-despotischen Bereicherungs- und Ermächtigungsstrukturen, man konnte sie mehr oder weniger offener auch in den „sozialistischen“ Gesellschaftsstrukturen erkennen. Anscheinend haben sich die Herzen der Menschheit nicht von ihrer vorbürgerlichen Strukturiertheit entfernt und neigen zu charismatischen Idealisierungen wie jüngst bei Obama oder brutaler Raffgier wie unter den Nazis oder legalisierter Bereicherung heute, wenn es das Pöstchen erlaubt. Adorno meint glaub ich irgendwo, das moderne Individuum neige dazu - da ständig unter dem Druck von Schuld und aggressiven Trieben – zu zerfallen, sei es unter Alkohol oder einer Identifizierung mit einer starken Masse, so als werde es wieder zurück zu einem „Naturzustand“ gezogen. Das Korrelat einer öffentlichen Barbarei ist der Rückzug der Individuen auf ihr Eigentum, ihr „Selbst“.
Der Kern des „Selbst“ ist aber nicht ein individuelles besitzbares Ding, sondern eine (vorübergehende) Kongruenz von gesellschaftlicher Erwartung und individueller Motivation.