19.6.07

MITSCHERLICH ALS NATIONALBOLSCHEWIST

Da hat einer eine neue Biografie über A. Mitscherlich geschrieben. Mitscherlich war, ich muss es gestehen, einer meiner Autoritäten um 67. Und in dieser Biografie kommt nun heraus:
- Mitscherlich war in dem Kreis um Ernst Jünger, dem Rechtsintellektuellen schlechthin (so Kleinspehn im
DLF, der auch Schwachsinn über Weizsäcker reproduziert). Das ist nicht ganz richtig, denn Mitscherlich war wohl über Niekisch in Kontakt mit ihm und hat sich nach 45 deutlich von ihm distanziert.
- Mitscherlich schreibt 43, es wäre beunruhigend, dass „nun noch Individuen auf(wachsen), die überhaupt ihre Existenz der Anstrengung, Leben um jeden Preis, verdanken“.
- Mitscherlich gehört seit … dem „nationalbolschewistischen“ Kreis um Niekisch an und wird in diesem Zusammenhang 1937 verhaftet (übrigens auch schon 33). Der Nationalbolschewismus war ein Programm eines linken nationalen Sozialismus im Bündnis mit der Sowjetunion. Seine Geschichte beginnt mit der Rätebewegung.
Niekisch kam von der SPD, USPD, Münchner Räteregierung (deswegen Festungshaft), wollte rechte und linke Arbeiter zusammenführen, wurde aber von den Nazis 39 zu Zuchthaus verurteilt.
Für unsere SchmalspurgeschichtlerDehli ist 71 geboren - mit ihren Scheuklappen rechts und links, gute Schüler des Mythos, Rechts und Links hätten die Weimarer „Demokratie“ zerstört, stellt sich der Begriff des „Nationalbolschewismus“ als Inbegriff des Bösen dar. Die gleiche Dummheit reproduziert sich in den verschiedenen Rezensionen. Es sieht aus, als würden die Söhne jener Ärzte wieder die Macht übernehmen, die die Verbreitung der Schrift von Mitscherlich über die Nazimedizin verhindert haben. Die gleichen, die einen Vitalismus ohne Gewissen und soziale Verantwortung propagieren.
Natürlich war Mitscherlich durch und durch bürgerlich. Sein Wahrheitskriterium war der Diskurs der Elite, nicht soziale Gerechtigkeit. Das Individuum und seine
Stärke stehen im Vordergrund seiner Überlegungen, nicht die Autonomie einer Klasse. Seine Schriften sind orthodox und wenig empirisch. Für seine Studenten hat er sich zu wenig engagiert. Trotzdem rechne ich ihm hoch an:
- er hat eine psychosomatische Medizin begründet (Medizin ohne Psyche ist Veterinärmedizin) (seine Arbeiten über Magengeschwüre sind inzwischen obsolet)
- er hat Freud in der Nachkriegszeit bekannt gemacht
- er hat während der Studentenbewegung neue Modelle von Wissensvermittlung versucht
- er hat eine Diskussion über Städtebau angeregt
- er hat die Psychologie der Massen zum Thema gemacht.

18.6.07

17.06.07 Die Weiße Rose

Eine entferntere „Verwandte“ besucht –Stieftochter der Halbschwester eines … Am Abend vorher lief in Arte "Sophie Scholl – Die letzten Tage". Da sie von der gleichen Generation und mit der Familie von Scholl usw. bekannt war, habe ich nachgefragt, ob sie sich den Film angeschaut hat: Nein, sie hat sich das zuerst überlegt, aber sich dann entschieden, es nicht zu tun. Es wäre eine aussichtslose Sache gewesen. Flugblätter verteilen in dieser Diktatur, sinnlos, wenn nicht sogar dumm. Ich wende ein: manchmal müsse man eben etwas machen oder sagen, egal ob es nützt oder schadet. Sie: Außerdem haben sie die Angehörigen nur als geltungsbedürftig kennen gelernt. Das ganze Unternehmen wäre eine Sache von Geltungsbedürfnis gewesen. Ich verzichte auf eine weitere, doch nur moralisierend werdende Diskussion.
Wenn ich mir das wieder überlege, denke ich an die Aktionen der Studentenbewegung: die buchstabenreichen Flugblätter gerichtet an ein lesendes, überlegendes Publikum, das mit moralischen Argumenten beeindruckt werden sollte. Das hat sich in der Zwischenzeit grundsätzlich geändert. Die Sache der Weißen Rose wurde ohne politische Taktik vorgetragen. Darin war die Aktion natürlich zum Scheitern verurteilt. Aber eine Politik wird nicht dadurch falsch, dass sie erfolglos ist.
Aber nun zu dem Satz: Man müsse sich so verhalten wie alle anderen und auf alle Fälle zu überleben versuchen. Einer der sich gegen die Norm verhält, ist verrückt, bzw. wie es auch heißt: er bildet sich ein, etwas Besseres zu sein. Ich wundere mich über diese Dame, wie sie ungerührt alles, was ich Schicksalsschläge nennen würde, hinter sich lässt: der Tod ihrer Mutter, ihrer Brüder, ihres Mannes, ihres Sohnes. Wie es da nur eine Richtlinie gibt, dass es gut aussieht, dass Ordnung ist, Sauberkeit. Unsentimental werden die Toten abtransportiert, - auf keinen Fall Musik bei der Beerdigung - das blitzblanke Grab mit erlesenen Blumen bestückt. So wie es sich gehört. Der beste Tod ist der, bei dem man nicht dabei ist – schnell und schmerzlos. Sie ist nicht areligiös, sie braucht Religion zur Vergewisserung, um alles in eine richtige Ordnung zu bringen.
Etwas Anderes ist der qualitätslose abstrakte Zeitbegriff, das was den morallos Überlebenden geblieben ist. Zeit ohne die Ausfüllung durch das, was subjektiv als notwendig und wahr gefühlt wird. Zeit vielmehr ausgefüllt durch Abwarten, Passivität, Kartenspielen, Fernsehen. Mimikry des So-seins-wie-andere (und noch ein bisschen besser, sauberer usw.).
Leben ist bei ihr Überleben geworden. Zuerst in der Diktatur, schon vorgespielt in Familie und durch das Schicksal, und hat sich dann weiterentwickelt im erhöhten Niveau des Wirtschaftswunders. Reproduktion, angereichert durch den kleinen Luxus. Sie ist nicht unzufrieden mit ihrem Leben, aber kämpft um jeden unnötigen Euro.

Demgegenüber der Begriff des im Tod erfüllten Lebens.

In der Fabrik gibt es wie in der Diktatur ähnliche Drohungen: wenn Du nicht mitmachst, verlierst Du Deinen Job. Und dann geht es bergab. Auf viele Sachen kannst Du nachher verzichten: Ich etwa auf Notebook, Fahrrad, Unterstützung der Kinder, ein bisschen männliches Leistungsbewusstsein.

KONTAKTPROBLEME

Ich will einen Kollegen zum Mittagessen einladen, den einzigen mit dem ich mich gut verstehe. Er hat drei Söhne. Einer davon hat vor, in England zu studieren. Später will er bei der UN arbeiten. Er hat schon neben mir am Band gearbeitet. Nur kurz. Kam mir dabei ziemlich arrogant vor. Hinterließ das Gefühl, dass er mit Arbeitern nichts zu tun haben will. Seine Leistungen in der Schule geben ihm das Recht, weit über diese Realität hinaus zu denken. Er lernt intensiv, konzentriert und ohne Probleme – vorwiegend nachts.
Als ich jetzt seinen Vater einlade, kommt er am nächsten Tag damit, dass er Besuch habe. Ich lade ihn für den nächsten Sonntag ein. Er muss seine Frau fragen. Da ist dann eine Hochzeit… Jetzt habe ich das gleiche Gefühl wie bei seinem Sohn. Dass er in einer Welt lebt, in der er die anderen verachtet. Und in die er sich nach den Kontroversen mit den Kollegen zurückgezogen hat. Vielleicht verachtet er alle Leute von diesem Kontinent.

(Eine Hypothese: Der Schwerpunkt des Lebens liegt nicht in der Arbeit, sondern im Privatleben, bestenfalls in dem bei der Arbeit organisierten Privatleben. Allerdings wird der Radius und Horizont des Privatlebens durch die Art der Arbeit präformiert. Die Beziehungen außerhalb der Arbeit konzentrieren das Bedürfnis nach Solidarität auf sich. In der Familie ist man nicht ersetzbar, sondern wie auch immer mehr oder weniger anerkanntes Individuum. Bei der Arbeit nur Maschinenteil – und andere die potentielle Konkurrenz.)

18.06.07 DER ARBEITSLOSE NACHBAR

Ein Nachbar war arbeitslos. Er zog sich zurück. Machte kaum mehr was. Nichts im Garten, nichts am Auto. Zu Routinegängen, etwa samstags um 8 zum Einkaufen, reichte es noch. Das Grüßen war kaum mehr vernehmlich, oft drehte er sich weg. Er nahm kräftig zu. Dabei gehörte er eher zu den Stammtischtypen, zu einem Verein. Solchen, die über Arbeitslose nur lästern. Koalitionen in der Straße mit ihm lösten sich auf.
Dann initiierte er eine Straßenversammlung. Es wurden einige Probleme und Projekte besprochen. Um diese Zeit begann er stundenweise zu arbeiten, dann ganztägig. Man sieht ihn ab und zu wieder draußen arbeiten. Aber er ist aber nicht mehr so präsent wie früher.

Ausgerechnet dann, wenn die Menschen am meisten Zeit haben, ihre Projekte zu machen, sich zu entwickeln, etwas zu unternehmen – in der Arbeitslosigkeit – sind sie dazu am wenigsten dazu in der Lage. Wahrscheinlich sind sie die meiste Zeit damit beschäftigt, die seelischen Wunden zu lecken, die ihnen die Arbeitslosigkeit zugefügt hat. Ein körperlicher Verfall wird beschleunigt. Der Körper saugt die Erfahrung auf, dass er nicht gebraucht wird und passt seine Organe daran an. Die nicht äußerbare Wut wird gegen sich selbst gerichtet. Bei denen umso mehr, deren einziger Stolz und Machtmittel die Arbeit war.

9.6.07

09.06.07 "Kapitalistische Maschine"

Die Arbeiter stehen sich als Konkurrenten gegenüber. Konkurrenz nicht nur im streng ökonomischen Sinn, dass sie sich Arbeit und Lohn wegnehmen, sondern auch dass sie im Betrieb und Gesellschaft in einer Hierarchie stehen, innerhalb derer Macht, Einfluss und Anerkennung verteilt ist.
Die Ökonomisten unter den Linken wollen das alles auf einen wahrscheinlich auch noch monetär quantifizierbaren Anteil am Mehrwert reduzieren. Aber das ist unzulässig reduziert. Genauso wie es eine solche unzulässige Reduktion der Wirklichkeit wäre, alles auf den Kampf um Macht zu reduzieren. (Wie es etwa der Adleranhänger
O. Rühle, den ich sehr respektiere, getan hat.)
Innerhalb dieser Machthierarchie, wie sie ein kapitalistisch organisierter Betrieb bildet – parallel und auch konträr zum technischen Produktionsprozess – erleben sich die Lohnabhängigen zunächst als ohnmächtig und Objekt der Willkür der Mächtigeren (durch mehr Wissen oder Position oder …). Aus der Erfahrung der Ohnmacht wird ein Wille zur Macht. Auch ein Wille, mit an den Privilegien „teilzuhaben“. („Teilhabe“ ersetzt in diesem Jahrhundert das „Teilnehmen“, die „Partizipation“. Wir merken: wir leben im Jahrhundert der Erben und Besitzer.) Aber jede solche „Teilhabe“ ist ein Verrat an menschlicher Solidarität. Schuld daran ist nicht individuelle Charakter, sondern das Machtgefälle, das die Entsolidarisierung bewirkt.
Ich merke selber, wie ich mit allen Mitteln um Anerkennung und Einfluss kämpfe – auf Grund meiner prekäreren Lage – Teilzeit, Nationalität, Erfahrung, Deklassierung - mehr dazu gezwungen. Meine Mittel sind: mehr technische Kenntnisse, Umgang mit dem Computer, entschiedeneres Auftreten gegenüber Chef und Vorarbeiter, meine Arbeitsleistung, meine Kritik an den Fehlern von Kollegen. Ich will „was zu sagen haben“.
[Auf der Ebene der Psychologie wird das als „narzisstische Problematik“ abgehandelt, als ein Problem des Selbstwertgefühls. Dem liege zugrunde eine frühkindliche Bindungsstörung.]

Was bedeutet aber „Solidarität“? Ist es eine Idee? Die Idee eines „neuen Menschen“, einer Umerziehung, eine moralische Forderung wie die „Nächstenliebe“? Oder ein Bedürfnis, ein Verlangen, ein utopischer oder „metaphysischer“ Affekt? Oder eine Erfahrung, die Menschen schon jetzt miteinander verbindet?

8.6.07

08.06.07 EIN KOLLEGE

Diese Woche musste ich mit meinem Lieblingskollegen zusammenarbeiten. Emigrant aus einer Nation, für deren Verbrechen er sicher nicht schuld ist. Aber die es mir schwer macht, ihren Angehörigen vorurteilsfrei zu begegnen.
Dieser Kollege hat gleich am Anfang meines Jobs seine Kreditibilität bei mir dadurch ruiniert, dass er mir gegenüber den Chef „markiert“ hat, das Band durchsausen ließ, die Teile auf dem Boden landeten und ich sie aufzusammeln hatte. Begründet hat er das damit, dass der Chef es genauso mache. – Gut, ich war sauer und habe mein Verhältnis zu ihm auf kleinste Flamme gedreht.
In der Zwischenzeit habe ich dann entdeckt, wie dieser Kollege einen Behinderten malträtiert, ganz im Stil seiner Nation, wie er vor dem Chef kriecht, bei der Arbeit aber ein Chaot ohnegleichen ist, weil ihm die Dinge zu kompliziert sind, alles durcheinander bringt, verschwindet, wenn Probleme auftauchen. Aber immer wieder Gewaltausbrüche, Wagen, die herumgestoßen werden. Dann werden seine Arme zu Gorillaschaufeln, fangen an zu kreiseln wie ein Karussell und er beginnt mit dem Hintern zu schwänzeln.
Einiges an ihm ist nicht sauber. Die Fassade ist zu durchsichtig, keiner nimmt ihn richtig ernst. Ich weiß mit ihm, dem Lottokönig, nichts zu reden. Eher tut er mir leid.
Aber auch diese Woche habe ich es nicht geschafft, mit ihm was zu sprechen. Die Vorarbeiterin macht immer den Mix, der uns zusammenführt. Wenn er wie gewöhnlich ein, zwei Stunden vor mir aufhört, verschwindet er kommentar- und grußlos. Das Einzige, was ich ihn immer gerne fragen würde, ist, wann er denn heute aufhört. Auf diesen Punkt warte ich die ganze Zeit. Schon wegen der Maschinen, die bei ihm bis zu doppelt so lang laufen als sie müssten. Verschwindet er, räume ich erst mal die angefangenen Jobs auf. Wo er arbeitet, hinterlässt er Chaos.

Warum schreib ich das?
Einmal, weil ich ehrlich sein will. Ich beschreibe einen miesen Typ, aber andererseits ist auch klar, dass ich mich selber mies verhalte.
Zum anderen fällt es mir natürlich schwer, darüber zu schreiben, weil ein solcher Mensch, vom Charakter ein bösartiger und unberechenbarer Untertan, keine Hoffnung zulässt, dass auf dieser Ebene sich was ändert.

Bei meinen Erfahrungen mit meinen Kollegen mache ich ein Experiment, wo ich Teil dieser "kapitalistischen Maschine" werde, kapitalistisch denke und fühle. Manchmal fühle ich mich so hineingezogen, wie Charlie in die Maschine von Modern Times. Ich weiß keinen Ausweg – sieht man von meinen aussichtslosen Bildungsreformideen ab –, aber um weiterdenken zu können, muss man sich auf diese Erfahrung einlassen.

1.6.07

01.06.07 Die Amerikanische Religionskritik

Gegen die Ausbreitung religionsfreundlicher Stimmungen in den Medien, z.B. Spiegel, Bildzeitung, in den Rundfunkhäusern, dominiert oft von Kirchen, wird hier eine neue Religionskritik aktiv, die in ihren Theoremen maßgeblich geprägt ist vom amerikanischen Positivismus und Pragmatismus, etwa bei Dawkins. Diese Richtungen haben einerseits alte moralische Probleme des alten Kontinents ohne deren Fixierungen neu zu lösen versucht, sind aber andererseits das Spiegelbild einer Gesellschaft, deren Modell das eines Einzelnen in einer widrigen Natur geprägt ist, nicht eines Individuums in einer vorgegebenen Gesellschaft. Die Gesellschaft wird vielmehr eine Art von Natur, in der man zu überleben hat und der gegenüber man sich durchsetzen muss, ohne dass es einen verfassten Konsens auf ein gemeinsames Leben und gegenseitige Verantwortung gibt. Es spiegelt eine Gesellschaft von einander fremden und feindlichen Aussiedlern und Einwanderern. Gemeinschaft vermittelt sich in dieser Welt über den Warentausch und das Geld wird zum Symbol dieses Gemeinwesens. Solche Verhältnisse brauchen keine Theorien über Moral, Kommunikation, Bewusstsein, Freiheit, Erkenntnis wie der alte Kontinent. Das Geld, der universelle Begriff für gesellschaftliche Existenz, ist die reale Universalie, die die Individuen vereint und beherrscht. Eine Universalie, die im Geld einen physischen Charakter hat.
Mit der Idee des sittlich handelnden Individuums wird auch der Begriff der Seele, des Bewusstsein aufgegeben – samt dem Inhalt, der damit verbunden wurde: Gemüt, Gefühl, Introspektion, kultureller Ausdruck, Kunst. „Seele“ hat eine metaphysische Implikation, ohne deswegen religiös zu sein, oder metaphysisch dogmatisiert werden zu müssen, insofern sie als selbstreflektives Organ nicht unmittelbar Gegenstand der physischen Welt ist.
Bei der amerikanischen Religionskritik wird mit der Beschränkung auf die physikalische Welt die Bedeutung des denkenden, reflektierenden, absichtsvoll handelnden Menschen im Zusammenhang und in der Auseinandersetzung mit der Gesellschaft um ihn, reduziert, bzw. ganz beseitigt. An die Stelle des moralischen Diskurses, der Reflexion von Recht und Unrecht, tritt der Verweis auf die vorhumane „Natur“, die Evolution, die Vererbung als rechtfertigende Prinzipien für soziale Ungleichheit und die Berechtigung von Gewalt. Theoreme des Sozialdarwinismus werden, wenn auch moderat und nicht so brutal wie bei den Faschisten, wieder ausgepackt, weil sie in das Modell einer neuen bürgerlichen Gesellschaft passen. Ihre Praxis: die gesellschaftliche Differenzierung, die Ausbeutung der Naturressourcen durch eine Weltminderheit, die privilegierte Aneignung und die Zerstörung der Autonomie durch den Markt, passen nicht mehr in ein moralisches Weltbild. Der Schluss, der daraus gezogen wird, ist die Beseitigung der Moral. Sie wird durch eine utilitaristische und evolutionistische, vorhumane Moral für Humanoide ersetzt. „Humanoid“ deswegen, weil mit den nichtphysikalischen Begriffen wie: Bewusstsein, Recht, Moral, Autonomie – samt ihren metaphysischen Implikationen – auch der Begriff eines universellen Menschen und seiner Würde aufgegeben wird. Andere Menschen sind demnach ja nur physische Attraktionen oder Hindernisse, während Bewusstsein und Moral als Bestandteile auf eine Dialektik von Besonderem und Allgemeinem verweisen. Die „neue“ „atheistische“ Moral ist noch nicht faschistisch, nur moderat werden Verweise auf Darwin, die Evolution und die Überlegenheit einer Menschensorte über andere vorgebracht.
Die Bewegung, nun auch aktiv in Deutschland, zeigt das
Elend der Religionskritik:
„Metaphysische“ Kategorien wie Seele, Sittlichkeit, Bewusstsein – aber auch Gleichheit, „Brüderlichkeit“ - haben einen sozialen Gehalt, sind eine gesellschaftliche Konstruktion. Sie verweisen auf etwas Anderes jenseits des physisch Bestehenden, auf eine Idee oder Utopie.
Gleichzeitig sind es Fetischkategorien, können Illusion, Täuschung, Heuchelei werden, weil sie unserer (physischen) Natur nicht gerecht werden. Unsere Natur zeigt sich uns in dem was wir überbedeutungsvoll „Seele“ nennen, in unseren Gefühle. Wir sind Getriebene und Gerichtete. Je mehr wir das verleugnen, verdrängen, desto mehr sind wir davon determiniert. Unsere „Freiheit“ besteht darin, ein wahrheitsgemäßes Bewusstsein von unseren Determinanten zu haben.
Eine Religionskritik müsste die verlorenen Bedürfnisse, Reflexionen und Utopien, die Religion bei den Menschen getragen hat, wieder aufnehmen und in die sozialen Beziehungen einbringen.
H. Schweppenhäuser, dessen Lesungen über Kritische Theorie ich jahrelang freitagmittags gehört habe, hat die Sache mit der Metaphysik in einem schönen Vortrag behandelt, so wunderbar und eloquent, wie ich das nie schaffen kann. Eine Abschrift hier.