18.10.07

Sind Autobahnen faschistisch?

Wieder taucht derzeit das Autobahnargument auf. Es diente in der Nachkriegszeit denen, die angegriffen sich gezwungen sahen, die Nazizeit zu verteidigen. Inzwischen ist es obsolet geworden. Wer es verwendet, stellt sich in die rechte Ecke. Das geht soweit, dass Wikipedia die Rolle Hitlers beim Bau der Autobahnen schlichtweg wegredet, obwohl er immerhin für den Ausbau eines Drittels der heutigen Strecken verantwortlich war. H.M. Broder, der sich für die Beurteilung des korrekten Antifaschismus als letzte Instanz zuständig fühlt, sieht keinen Zusammenhang zwischen Faschismus und Autobahn. Er darf sich das schon deswegen nicht zulassen, weil sich Israel mit einer Trans-Israel-Autobahn schmückt - zuungunsten palästinensischer Gebiete. Meine Frage ist also offen.

Man kann eine Autobahn aus zwei verschiedenen Punkten betrachten: als Entfernung oder als Annäherung.
Als Mittel der Entfernung ist sie Mittel für die rasende Bewegung, von den Futuristen als
angriffslustige Bewegung, Schönheit der Geschwindigkeit bejubelt, als Teil einer allgemeinen Militarisierung gefordert. Die im Auto erreichte Geschwindigkeit, das passive Vorwärtsbewegtwerden durch den Motor, ist eine Regression auf einen kindlichen Zustand, in dem man getragen wird, ein Wohl- und Glücksgefühl, das wohl viele oft vermissen mussten. Die Faschisten haben es verstanden dieses Defizit an positiven Selbstgefühlen durch ein Repertoire von Größenphantasien anzusprechen: die überlegene Rasse, der Blitzkrieger, die Luftwaffe und Raketentechnik, die Wunderwaffe, die grandiosen Masseninszenierungen, die Architektur, die Schlachtschiffe usw.
Der Faschismus, sei er rot oder braun, lebt von der Substanz der größenbedürftigen Individuen. Er bietet ihnen Erlebnisse von Grandiosität. Obwohl zur Nazizeit die Autobahnen eigentlich leer waren, haben sie doch durch ihre Grandiosität beeindruckt.

Das Andere ist die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit. Eigentlich gehört es mit zum Projekt des Größenwahnsinns. Es ist der metaphysische Traum, immer und überall sein zu können. Das, was bisher die Religionen versprochen haben, muss jetzt nach der Verstandeskritik die Technik einlösen. Durch die schnelle Verbindung entfernt liegender Orte mit Hilfe des modernen Verkehrs sollen die Grenzen und Unterschiede beseitigt werden. Die Landschaft, die am Auge vorbeizieht, verliert ihre Unterschiede. Es wird sogar nötig, um dem Fahrer ein Gefühl der Geschwindigkeit, mit der er rast, zu geben, die Ränder der Autobahn speziell zu bepflanzen.
In dem Maße, in dem die Raumgrenzen erweitert werden, wird die Besonderheit der Landschaft überwunden, Steigungen, Untergrund, Wendungen werden ausgeglichen. Eigentlich sollte es immer nur flach geradeaus gehen. Die faschistische Bewegung mag nicht das Relief, die mäandernde Bewegung. Tendenziell ist sie gerade, der Raketenflug das Optimum. Historisch ist das nicht neu, schon das römische Imperium hat das mit seinen Heerstraßen vorgemacht. Auf diesen römischen Straßen hat sich das Christentum ausgebreitet. Geradewegs hat es die Linie des Lebens ins Jenseits verlängert - die Himmelfahrt nahm den Raketenflug vorweg.
Die imperiale Bewegung gehört mit zur Zentralisierung und Gleichschaltung des Reichs. Während aber die Weiten erobert werden, etwa die unendlichen des Ostens, wird ein Heimatkult als kitschige Lüge zelebriert. Ebenso sentimentaler Mutterkult, während gleichzeitig in der Erziehung der Kinder durch Hitlerjugend, Schule, Gestapospitzelei, Eugenik, Armee und Napola die Familie zerstört wird. Dasselbe bei der Rolle der Frau: einerseits Mutterkult, andererseits die Verschickung der Frauen in Arbeitsdienst und Rüstungsindustrie. Wie immer, besteht Politik aus der Kunst der Lüge zur Ausweitung der Macht.
Die Faschisten haben nur das Projekt weitergeführt, das der moderne Rationalismus schon in der Aufklärung begonnen hat. Etwa in der Kanalisierung der Flüsse, der Städtearchitektur von Versailles, Berlin oder Barcelona. Das Besondere, Willkürliche, Individuelle und Unberechenbare soll zugunsten eines höheren Allgemeinen beseitigt werden. Es nennt sich „Ordnung“. Der Unterschied des faschistischen Projekts zum rationalen der Aufklärung besteht darin, dass es die imperiale Praxis mit gefühlvollen Phrasen verschönt: Heimat, Familie, Mütterlichkeit. So wie heute die Unterwerfung unter Moden, die Zwänge der Kapitalverwertung und Konkurrenz als „Individualität“ gefeiert werden.

Doch was hat damit einer zu tun, der auf der Autobahn fährt? Hat die AB heute doch eine andere Funktion, ist Teil der kapitalistischen Warenproduktion geworden. Die meisten dürften darauf „geschäftlich“ unterwegs sein. Das faschistische Erlebnis der schnellen Raumeroberung haben vielleicht noch die Urlaubsfahrer. Allerdings bleiben auch die oft im Stau stecken. Der Erlebnischarakter der AB schrumpft wie das religiöse Erlebnis im Rosenkranz. Das moderne Reisen gibt dem Reisenden das Gefühl, schnell überall sein zu können, aber genauso wie Landschaft gleichen sich auch die Ziele an, zu denen die Autos fahren. Das Erlebnis des Reisens reduziert sich bei dem heutigen Touristen oft auf das Suchen von Bildern, die er vor der Reise schon gesehen hat, auf das erwartbar andere Klima etc. Er kommt ohne Sprachkenntnisse durch, ohne sich mit der bereisten Region bekannt zu machen.
Was da sich historisch entwickelt hat, ist eine abstrakte kollektive Identität. Man kann sie von verschiedenen Seiten betrachten: etwa von der der Entwicklung der Wege und Straßen, des Verkehrs – oder in der Herausbildung eines mehr und mehr überregionalen Warenverkehr,
Kennzeichnend für eine solche abstrakte kollektive Identität ist, dass die Menschen dabei nur in einer sehr beschränkten Funktion aktiv sind. So ist etwa das moderne städtische Leben gegenüber dem vergangenen dörflichen Leben in seinen Beziehungen distanziert, bis hin zur Anonymität und dem Ausweichen vor näherem Kennenlernen. Weil sich aber jeder an allgemeine Regeln hält, ist trotzdem ein Zusammenleben möglich. Der moderne Bürger tritt in seinen Kontakten mit einer beschränkten Identität auf. Etwa in seiner geschäftlichen Funktion, oder in seiner privaten usw. Gerade im Internet mit weitgehend anonymen Schreibern und Lesern wird diese abstrakte kollektive Identität deutlich. Stellt man die Ausdrucksmöglichkeiten dem innerhalb des dörflichen Lebens gegenüber, wo jeder (beinahe) alles vom anderen weiß, wird klar, dass das Verhältnis von Vertrauen und Misstrauen, von Distanz und Nähe in den Beziehungen sich grundsätzlich geändert hat.
Es kann nun nicht darum gehen, wieder zum dörflichen Leben und zum Reisen zu Fuß als alleinigem Fortbewegungsmittel zurückzugehen, sondern zu begreifen, welche Veränderungen im Zusammenleben und im Selbstverständnis der Menschen stattgefunden haben. Die faschistische Identität bringt nur die Krisenhaftigkeit dieser Entwicklung zum Ausdruck. Es hat keinen Sinn, es nur als Ausdruck des Bösen zu denunzieren. Offensichtlich ist eine Dynamik am Werk – Resultat einer in sich gegensätzlichen menschlichen Natur, etwa von Verlangen nach Nähe und Distanz – die sich hier entfaltet und nach einem neuen Gleichgewicht unter veränderten historischen Bedingungen verlangt.

Wenn die Menschen in Funktionen der Warenproduktion auf der AB fahren, werden sie dadurch menschlicher? Dass einer Geld verdienen muss, wirkt selfevident und einleuchtend. Trotzdem kann es eine humane Grenze überschreiten, etwa in dem ungerechten Verbrauch energetischer Ressourcen, den ökologischen Folgen, den zwischenmenschlichen Beziehungen. Die Warenproduktion hat sich faschistische Elemente einverleibt, sie marktgerecht scheinbar assimiliert und gebändigt.
Die objektive Funktion – Transport von Waren – hat sich von den subjektiven Motivationen – Geschwindigkeitsrausch, der imperialen Geste – gelöst. Die alten faschistischen Ziele sind als nützliche Elemente vom globalisierten Kapitalismus integriert worden. Das Imperium hat die Grundlagen für den Weltmarkt geliefert. Der große Führer ist von vielen kleinen Imperatoren abgelöst worden.

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