23.04.07
Warum wird ein Katholik Chefredakteur des Kulturressorts beim "Spiegel", einer einst antikatholischen Bastion? M. Matussek bekennt sich als praktizierenden Katholiken. Da ich eine ähnliche Vergangenheit wie er hatte – 6 Jahre katholische Napola -, interessieren und wundern mich seine Ausführungen zur Religion. Er sagt: man solle hinknien, um den Glauben zu bekommen, lobt den Rosenkranz, das Tischgebet, das Ministrieren. Das erziehe zu Verlässlichkeit, Regelmäßigkeit, Demut, Disziplin, Pünktlichkeit. Und bei der Eucharistie da sagt man: „Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach, aber sprich nur ein Wort und meine Seele wird gesund.“ Das ist also Gottesdienst, nicht das urchristliche Zusammenkommen, bei dem das gemeinsame Mahl samt Armenspeisung im Vordergrund steht. Dieser Wechsel vom Zusammensein zum Gottesdienst ist gleichzeitig der Wechsel von Gemeinschaft und Gemeinde zur Beziehung eines Einzelnen zu Gott. An die Stelle menschlicher Beziehungen tritt die Unterordnung unter Gott und seine irdische Stellvertreter, der Gehorsam und die anderen autoritären Tugenden, für die eine heteronome Gesellschaft immer wieder Verwendung findet. Gleichzeitig stellt der heutige Glaube kein Hindernis dar, sich großzügig der irdischen Ressourcen zu bedienen.
Man schaue sich den von Matussek verehrten Benedikt an, wie er auf Bayern 4 in Scheinheiligkeit schreitet, fernsieht, betet, segnet – es aber in den vielen Jahren vor seinem Amte nie für nötig hielt, mit den anderen im gleichen Haus wohnenden deutschen Kardinälen auch nur einmal gemeinsam essen zu gehen. Wozu auch? Der durch seine Beziehung zu Gott gerechtfertigte, geheiligte und geheilte Mensch, hat andere Menschen nicht mehr nötig. Ein Beispiel, wie der Glaube zu einem heimlichen Größenwahn führt, ganz und gar nicht zu Demut oder um weniger autoritäre Begriffe zu gebrauchen: Bescheidenheit und Ehrlichkeit.
Freud sah in den religiösen Ritualen Zwangshandlungen, die den Sinn haben, einen Kompromiss in einem Triebkonflikt zu bilden, dem Konflikt zwischen einer innigen Verbindung zum Vater und einer destruktiven Wut gegen ihn. Die Zwangshandlung löst diesen Gefühlskonflikt und die damit verbundenen Ängste auf. An die Stelle von innigen und aggressiven Gefühlen tritt eine gefühlsneutrale fetischisierte Handlung, rationale Begründungen werden nachgeliefert. Der sich so disziplinierende Mensch wird zum Charakter: Trotz, Eigensinn, Pedanterie.
Ein Paul Matussek hat das 1965 in einer Diskussion, die mich damals sehr beschäftigt hat, Ideologie genannt. Aber M. Matussek hat sich um solche Dinge nicht gekümmert. Er ging zu den Maoisten. Freud sprach seinerzeit von zwei großen Massen, die die Gesellschaft prägen: Militär und Kirche. Aber auch bei den Maoisten mit ihrem stalinistischen Führerkult ersetzte das gemeinsame Ich-Ideal das private ÜberIch. Damals kämpften sie gegen uns Antiautoritäre. Zwischenzeitlich ist er aber schon weitermarschiert und auf den Papst gekommen.
Mir geht es aber nicht um diese Einzelbiografie. Die Frage ist mehr, wie M. Matussek einen solchen Einfluss bekommt. Ich denke es liegt an Folgendem:
- er vertritt eine traditionelle Ordentlichkeit, orientiert an Anpassung an herrschende autoritäre Machtstrukturen in Schule, Betrieb und Politik und gibt ihr einen scheinbar metaphysischen Sinn.
- Der Weg zur Autonomie ist ein mühsamer: über Depressionen, Ängste, Alpträume, Zweifel, Trennungen. Und dabei helfen Zaubersprüche eines „Herrn“ nicht.
- Die Konkurrenz zwischen den Menschen hat enorm zugenommen. Daran schuld ist nicht nur der kapitalistische Arbeitsmarkt, sondern auch die durch liberale Ideologien veränderten Beziehungen zwischen den Menschen seit 68. Matussek träumt von traditionell geordneten und familiären Beziehungen. Gleichzeitig ist der Spiegel selber Organ der neoliberalen Reform und Verschärfung der Konkurrenz. Um die aufgelösten Bindungen einer solchen Gesellschaft wieder zu kitten, versucht man es mit dem Rückgriff auf traditionelle Werte; etwa der Nation, Religion, dem Krieg.
Was hat der Katholizismus mit meiner Fließbandarbeit zu tun? Manchmal frage ich mich, ob – abgesehen von meiner Unfähigkeit – es nicht Resultat eines religiösen Schuldgefühls ist, dass ich mich dieser gesellschaftlichen Degradierung unterwerfe, dieser Dienst am Band also eine Art Bußleistung ist, eine innere Art von Christentum, christliches Märtyrertum light – gleichzeitig mit dem Recht verbunden, Anerkennung von weniger Eifernden verlangen zu dürfen. Erinnere mich an meinen Respekt für die Arbeiterpriester, die 59 vom Vatikan verboten wurden. Als Katholik hat man ja ein besonders scharfes ÜberIch durch die überhöhten moralischen Forderungen der Nächsten- und Feindesliebe, des Sexualverbots, dem Sünderbewusstsein und misanthropischen Menschenbild, der frühen Übung von Beichte und Selbstkritik, der Androhung von Hölle.
Durch eine solche Ausbildung geschärft, stellten sich mir Fragen der Moral, der sozialen Gerechtigkeit radikaler.
Mein katholischer Vater war Arbeiter, der die Mittelschicht, Ärzte und Pfarrer, Lehrer usw. verehrte. Katholisch streng war er geworden in der Kriegsgefangenschaft, als seine katholische Herkunft als der richtige Weg und antinationalsozialistisch interpretierbar wurde. Die Wiederbewaffnung der BRD war für ihn ein unmoralischer Akt. – Arbeit, harte Arbeit, war in diesem Milieu, was sozial zählte. „Studenten“ (also Gymnasiasten wie ich) waren tendenziell Faulenzer. Es war für mich schwer oder unmöglich, einen Kompromiss zu finden. Lange habe ich gegen diese Überlegenheit meines Vaters angekämpft. Er glaubte mit der Arbeitsüberlegenheit Loyalitäten aller Art von mir erzwingen zu können. Anerkennung von ihm konnte ich nur mit gleichen Leistungen erzwingen. Meine Vorsprünge musste ich nicht nur mit schlechtem Gewissen, sondern auch mit Abwertungen, Desinteresse bezahlen. Als ich aus dem Religionsunterricht austrat, wollte er mich von der Schule abmelden. Kein Wort an mich, als ich das Abitur schrieb. Das Studium ohne jede finanzielle oder moralische Unterstützung.
Seine Anerkennung habe ich gefunden, wenn ich in die Fabrik zum Arbeiten ging und als er selbst arbeitslos wurde. Ist dieser soziale Druck bei mir zu einem irrationalen Gewissen geworden? Bin ich ein Opfer der Unterschichtenmoral und ihrer irrationalen Arbeitszwänge?
Die Welt sieht von unten anders aus. Die Mittelklasse mag sich gesellschaftlich notwendig vorkommen, weil sie moralische Maßstäbe formuliert, lenkt und leitet, vordenkt, organisiert. Aus der Sicht von unten ist das ein angemaßtes Privileg, das sie sich mit Beziehungen, Erbe usw. in einem unfairen Kampf und schon gar nicht demokratisch erworben haben. Aber in der Regel ist das nur ein dumpfes Bewusstsein, oder ein Affekt.
Es bedeutete für mich, dass ich mit der Moral von unten oben unmöglich sinnvoll leben konnte. Die Gefühle der Unterschicht werden von der Mittelklasse neuerdings als Neid abgetan. In der Tat beruht die Einstellung der Unterschicht gegenüber denen da oben auf einem Ressentiment, das noch nicht die Kraft zu etwas Besserem enthält, sondern vielmehr einen Unrechts- und Schuldstatus betont, der die Abhängigkeit verfestigt. „Wenn es die da oben besser machen, dann wird alles gut.“ Andererseits sind die unten aus der Sicht der von oben mit Mängeln behaftet: sie können es eben nicht so gut, machen Fehler, sind faul usw. Im Verhältnis zu meinen Kollegen spüre ich diese Oben-Unten-Gefühle bei mir selbst.
Spielt der Katholizismus heute bei den Arbeitern eine Rolle? In der Fabrik habe ich meine ersten Erfahrungen mit einem „Atheisten“ gemacht, einem unflätigen und bösartigen. Er hatte wohl seine Erfahrung mit der Kirche nicht bei einem netten und klugen Pfarrer gemacht, sondern bei solchen - damals nicht unüblich - die Kinder misshandelten, brüllten und schlugen. Einer von denen war noch bis vor einiger Zeit der Leiter einer Einrichtung zur Erzieherinnenausbildung, ein Anderer Ausbilder an einer pädagogischen Fachhochschule. Ob sie ihren Studenten erklärt haben, welch böse Gefühle sie gegenüber Kinder und Jugendlichen gehabt haben, woher die Wut kam, die sie getrieben hat?
Ansonsten spielt die Religion keine Rolle mehr. Einer meiner Kollegen macht bei Festivitäten mit, die zum Kleinstadtleben gehören, neben Feuerwehr, Gartenverein etc. Wenn er an seinem Arbeitsplatz den Radio anmacht, hört er den Heimat- und Dudelfunk.