17.5.07

17.05.07 Lesekultur

LESEKULTUR
Wenn ich meinen Blog mit den Augen etwa meiner Kinder anschaue, erscheint mir es als eine große Buchstabenwüste. Deswegen versuche ich manchmal Bilder einzufügen, Hervorhebungen einzubauen. Schaue ich mir die weltweit produzierten Blogs an, so besitzen die meisten ein schrilles Design, mit dem sie auf sich aufmerksam zu machen versuchen. Da die Inhalte, die Bilder, die Texte, die Videos und Links oft austauschbar sind, versuchen sie sich durch Design zu individualisieren, wie der Hosenkäufer im Männermodenshop.
Lesen ist out. Ich gehöre zu einer Generation, die von Buchstaben gelebt hat. Alles irgendwie Lesbare habe ich verschlungen: Schulbücher, Messbücher, Zeitungen. Später habe ich gelernt, auch unlesbare Texte lesbar zu machen durch: Exzerpte, Unterstreichungen, durch Anmerkungen, kritisches Lesen, das dem Autor Fehler nachweisen möchte, diskursives Lesen, das Argumente und Gegenargumente mitdenkt.
Diese Lesekultur ist Produkt einer Lebenskultur, die unzufrieden war, mit dem worin sie gelebt hat – man kann es heute noch bei Immigranten beobachten – und einer Abrichtung in der Schule auf Texte.
In den 70er Jahren wurden die Comics zur Kultur erhoben. Ich bin sie als Kind zwar stapelweise durchgegangen, aber habe mich dabei beobachtet, wie ich die Texte in den Blasen nur überflog, weil die Handlung durch das schnell erfasste Bild ohnehin schon klar war, der Text mehr einem Gefühlsausdruck diente als die Geschichte vorantrieb.
Die Verteidigung des Bildes sollte die Interessen der Schüler integrieren, ihnen die harte und mühsame Arbeit mit dem Text ersparen. Das Bild soll motivieren, es fasst eine komplizierte Aussage kurz und prägnant zusammen, es manipuliert die Gefühle in eine Richtung und erspart einen argumentativen Diskurs. Das tun Texte auch – man denke an politische Manifeste, die Bibel usw. – aber sie sind leichter hinterfragbar.
Bilder stellen schneller eine Beziehung zu unseren Interessen, Bedürfnissen, Triebleben her, fordern zu Handlungen auf. Werbung arbeitet mit Bildern, weil sie sich so komplizierte und unsinnige Texte ersparen kann. Sie stellt unbewusste Assoziationen her, die unsere geheimen Wünsche ansprechen. Wir sollen darauf instinktiv, nicht mit kritischem Bewusstsein reagieren.
Man stelle sich aber den Bau einer Maschine vor, oder den Bau eines HTML-Textes im Internet. Es ist eine große Ansammlung von Handlungsanweisungen, Sätzen, Sprache pur. Es ist nicht ganz, aber doch in Vielem der Arbeit eines Handwerkers vergleichbar. Er könnte vieles, nicht alles, in Sätzen beschreiben. Diese Sätze müssen durchdacht und praktisch nachvollzogen sein. Die handwerkliche Kunst besteht nun darin, Sensibilität zu entwickeln, die Besonderheiten des Materials wahrzunehmen, sein Verhalten daran anzupassen. Man kann dieses System von in Sätzen gepressten Handlungsanweisungen auch in Bildern darstellen. Aber um internalisiert zu werden, bedarf es wieder des sprachliche Denkens und bewussten Arbeitens.
So ist also Sprache die Voraussetzung für gesellschaftliche Produktion, gehört zur Arbeit. Mit dem Verschwinden von Arbeit verschwindet auch die Sprache. Zwischen Wunsch und Erfüllung, muss nun nicht mehr Arbeit und Sprache treten, sondern das Bild löst die Reaktion, die Kaufentscheidung, den Klick darauf aus.

Das Bild soll nicht nur kritisiert werden. Bilder zeigen auch den Weg zu unserem Inneren, Unbewussten und Wünschen. Man sagt: Bilder lügen nicht, was ja nicht stimmt, aber Bilder sind mit unseren Interessen, Gefühlen und Instinkten inniger verwoben als lange Texte, die man liest, um am Ende festzustellen, das war’s nicht wert.

Auf der einen Seite sind Bilder mit einer neuen hedonistischen Kultur verbunden, auf der anderen Seite sind sie Zeugnis einer Gesellschaft, die körperliche Arbeit als notwendige Tatsache verdrängt, ermöglicht durch die Ausbeutung der energetischen Ressourcen der Welt und der Arbeit der Dritten Welt. Sie machen den üppigen Konsum möglich, Frustrationstoleranz überflüssig.


Beim Streit um die Lesekultur stoßen nun die produktive und die konsumtive Fraktion des Kapitals und seiner ihm zugehörigen Gesellschaftsschichten und Apologeten zusammen: Da sind die traditionalistischen Produktionsorientierten, dort die die den Konsum und das leichte Leben propagieren wollen. Einerseits die Sparsamen, Fleißigen, die Rechtschreiber und Leser und auf der anderen Seite die Genießer, die Verschwender, die ihr Geld gerne ausgeben, sich immer wieder etwas leisten und gönnen müssen. Diese Gesellschaft braucht sie beide, bedient sie beide, macht mit beiden ihre Geschäfte. Am besten natürlich der Arbeiter, schlecht bezahlt, hoch verschuldet, der sich sein Leben lang an die Mehrwertproduktion bindet – gelenkt und geleitet durch den Gegentyp des rational denkenden und disziplinierten Mittelklässlers, der ihn an die Arbeit bindet und ihn per TV und Konsumangebote seinem Niveau entsprechend manipuliert.

Ich stelle mir vor, wie eine neue Schicht entsteht, die zunehmend die öffentlich wirksame Sprache verliert. Sprechen wird durch Sprücheklopfen ersetzt, eine Rhetorik die mehr impliziert als sagt, Positionen belegt, nicht mitteilt, ausgrenzt und eingrenzt statt mitzuteilen in dem Sinne, dass etwas Gemeinsames weitergegeben wird. Der nach wie vor mühsame Arbeitsprozess wird bei diesen ausgeschlossenen Schichten entweder auf einfache Tätigkeiten mit begleitenden x-beliebigen Fantasien oder ganz auf den Zustand von Arbeitslosigkeit reduziert. Was ich bei der Debatte um das „bedingungslose Grundeinkommen“ befürchte: Weil Arbeit zum nicht mehr erreichbaren Privileg wird, gibt man den plebejisierten Massen „Brot und Spiele“ in der Form des „Bürgereinkommens“. „Individualität“ – dieser Anschein von Autonomie – gilt dann erwerbbar durch den Kauf von Konsumartikeln.
De facto ist es ja schon jetzt so, dass Arbeit zum Privileg wird, zu einem Zeichen der sozialen Überlegenheit, und der, der das nicht hat, ist gesellschaftlich ausgeschlossen, gerät in die Depression oder in einen paranoiden Zustand. Arbeit, das sehen die bürgerlichen Vertreter des Grundeinkommens ja realistisch, ist abgewandert in die Dritte Welt, nach China, Vietnam usw., wird ersetzt durch Automaten, intelligente Produktion. Eine Vollbeschäftigung in Industrieproduktion ist nicht mehr denkbar, ja unnötig. Selbst wenn man die Traktoren durch von Tieren gezogene Geräte ersetzen, so das Erdöl aus der Energieproduktion herausrechnen würde, wäre eine Rückentwicklung auf eine Gesellschaft, in der 80% Bauern sind, nicht mehr nötig.
Die durch Wissen und Organisation immer mehr vergesellschaftete Arbeit wird zum Eigentum einer Klasse, die durch Medien, Elternhaus und Schule sprach- und artikulationsfähig ist. Im Gegensatz zu der plebejischen Masse, die von Sozialarbeitern verwaltet – das hat der Herr Horkheimer ja schon in den 30er Jahren vorhergesehen – zur manipulierbaren Masse verkommt - sei es der Konsumgüterindustrie oder der Politiker.

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