2.2.08

Schlagen

Ist die Tabuisierung des Schlagens bürgerlich?

Zu den bürgerlich liberalen Umgangsformen gehört die Tabuisierung des Schlagens. Ich wurde geschlagen – in meinem Milieu, meiner Klasse war das zu jener Zeit nicht unüblich – und habe geschlagen. Mir stellt sich die Frage, ob diese bürgerlich-liberale Tabuisierung der Gewalt nichts anderes als ein Mittel ist, um - begünstigt durch reichliches Einkommen und freundliche Umwelt – jene noch mehr zu diskriminieren, die unter gesellschaftlichem Druck, Erfahrung von Benachteiligung, von eigener Schwäche und Verletzbarkeit zum Schlagen als Ordnungsmittel greifen?


Ist körperliche Gewalt proletarisch?

Es gibt eine falsche Verherrlichung körperlicher Gewalt innerhalb der radikalen Linken, der Abfuhr der Affekte von erlittener Ohnmacht in Krawalldemos etwa, oder in der Ikone vom starken und auch handgreiflichen Proletarier. – Gewalt hat eine Tendenz zur grenzenlosen Ausweitung. Aber es ist zu leicht und billig jede körperliche Gewalt mit ihren großen historischen Explosionen im Völkermord gleichzusetzen. Wer in jedem Schlag nur den Faschismus sieht, interpretiert bewusst falsch und trägt zur Verfeindung bei.


Sinn von Schlagen

In meinem Fall interpretiere ich die Schläge, die ich bekommen habe - es waren viele, von Eltern, Lehrer – als im Effekt Versuche, das weiterzugeben, was selber empfangen wurde, eine Art von negativer Erbschaft. Als Geschlagener erfahre ich so etwas über die Biografie der Schlagenden, ihre Gefühle und wie sie sich selbst empfunden haben. Jetzt wo sie tot sind und schaue ich auf ihr Leben, kann ich sie besser verstehen. Vielleicht auch, weil im Geschlagenen mit jedem Schlag Todeswünsche gegenüber dem Schlagenden erzeugt werden und dieser Todeswunsch mit seinem Tod befriedigt wurde und so sich das Verhältnis „entspannt“ hat.


Beim Schlagen, so meine Vermutung, wird auch etwas Inneres exterritorialisiert. Jemand wird weggestoßen, der etwas verdrängtes eigenes Inneres darstellt. Sei es ein eigener Affekt, eine eigene unterdrückte Handlung. Es gibt sicher Unterschiede zwischen einem affektiven Schlagen und einem Schlagen mit kühler Hand. In dem einen Fall ist das Böse gefühlsmäßig präsent und unmittelbar bedrohlich, aber die Zuschreibung des Bösen ist nicht fest und endgültig. Der Schlagende ist vom Bösen so affiziert, dass er auf das Böse spiegelbildlich - vielleicht „mimetisch“ - böse reagiert. Es ist gleichgültig, ob es eine Ideologie dafür gibt oder nicht – reine „Spontaneität“ gibt es ohnehin nicht. Im anderen Fall ist es personifiziert und kontrollierbar, bezieht sich entweder auf die Person oder auf ihre Taten. Hier wird dann von Vergeltung, Rache, Bestrafung, Buße usw. gesprochen. Nietzsche sieht in der Rache die Urform des Rechts; Gleiches wird mit Gleichem vergolten - eine Vorform der sozialen Gleichheit und Gerechtigkeit.


In der schlagenden Gesellschaft wird die Trennung der gesellschaftlichen Individuen untereinander zum bestimmenden Prinzip. Moralische und auch übrige Reinlichkeit sind oberste Werte, das Mitgefühl, die Identifikation und Empathie wird verweigert. Die Individuen erleben sich als voneinander unterschiedene und getrennte. Es gibt Böse und Gerechtfertigte. Der Schlagende sieht in dem anderen das Böse. Der Geschlagene sieht in sich das Böse, wie wiederum auch im Schlagenden das Böse. Trennung, Abstoßung, Ausstoßung, Unterdrückung, Absonderung, Strafen, Kontrollieren usw. sind die Modi einer schlagenden Gesellschaft. [Manchmal kommt es mir vor, dass der urteilende Verstand, der klassifiziert, in Begriffe ordnet, der die Dinge voneinander trennt und sie auseinander hält, definiert und voneinander abgrenzt, der Namen gibt, Identitäten und Unterschiede erzeugt, ein Teil dieses strafenden und schlagenden Gesellschaftssystems ist. Dabei ist die schlagende Geste die Vorform des urteilenden Verstandes.]


Die Wirkung des Schlagens ist eine Abgrenzung. Aber sie kann auch wieder eine Beziehung herstellen. Im traditionellen Recht in Zimbabwe etwa muss ein Toter durch die Einheirat einer Frau aus der Familie des Täters gesühnt werden. Deren erstes Kind gehört wieder zu der Familie der Frau. - Die jugendlichen Ausländer, die auf die deutschen Rentner einschlagen, stellen eine Verbindung zu jenen her, die sich von ihnen abgrenzen wollen. Sie gehen nicht indifferent aneinander vorbei, sondern stehen sich gegenüber.


Auch das begriffliche Denken, das zwischen den Dingen unterscheidet, bringt diese durch die Begriffe zueinander in einen Zusammenhang, in einen (flüchtigen) systematischen Zusammenhang. Jeder Begriff enthält sein Gegenteil in sich - alte dialektische Weisheit.


Die Dialektik des Schlagens

Aber nicht nur der Geschlagene ist ausgesondert. Auch der Schlagende hat sich schmutzig und schuldig gemacht. Es hängt an ihm wie der schlechte Ruf an dem Henker. Er nimmt eine Schuld auf sich, muss Rache, Distanzierung, Isolierung fürchten.

Schlagen ist einerseits eine „impulsive“ Regelung von sozialer Ordnung, andererseits immer auch eine Verletzung dieser Ordnung, eine Zerstörung sozialer Beziehungen, die Rache, Schuldgefühle, Scham, Trennung und Distanz nach sich zieht. Wenn ein Kind nach den Schlägen weint, bringt es damit auch die Trauer über eine zerstörte Hoffnung, über zerstörtes Vertrauen und eine zerstörte Beziehung zum Ausdruck.


"Vorteile" des Schlagens

Dabei ist das Schlagen als eine „materielle“ Handlung relativ einfach zu behandeln: eine Tat, die sich verfolgen, rechtfertigen, bezeugen, quantifizieren lässt. Ihre „Objektivität“ macht sie behandelbar, schafft Klarheit, ist eine „einfache“ Lösung, überfordert nicht den nach Eindeutigkeit verlangenden Sinn. – Ganz anders bei seelischer Grausamkeit, bürgerlicher Kälte, Indifferenz, Schweigen, Ignorieren, dem Gebrauch materieller Abhängigkeit. Diese „Klarheit“ und „Eindeutigkeit“ der Schläge wird als ein Vorteil gegenüber den intellektuellen Winkelzügen einer nichtschlagenden Pädagogik propagiert, obwohl sie immer auch mit der üblichen Ungerechtigkeit verbunden ist, die mit asymmetrischen Verhältnissen einhergeht. In Afrika habe ich erlebt, wie ein 8jähriger Schüler vor versammelter Schule vom Direktor mit Schlägen und Fußtritten traktiert wurde. Derselbe Direktor erzählte mir, wie er immer, wenn er seinen alten Lehrer trifft, diesem ein Bier als Entlohnung für die Schläge spendiert, die er von ihm bekommen hat. Seine Klassenkameraden, die es nicht so weit gebracht haben, dürften weniger spendabel sein.


Ist das staatliche Gewaltprivileg eine notwendige Kulturbedingung?

Schlagen ist Ausstoßung aus einer Gemeinschaft, eine Feinderklärung bis zur Todesdrohung und Tötung, andererseits aber auch eine Regelung von sozialer Ordnung auf einem konservativen Niveau. „Konservativ“ in dem Sinne, dass diese Ordnung geregelt oder wiederhergestellt wird, dass die Motive und Intentionen des Ausgestoßenen nicht gewürdigt, verstanden und abgelehnt werden. Nun lebt Gesellschaft immer von der Verdrängung und Unterdrückung gemeinschaftsfeindlicher Handlungen, aber diese Unterdrückung muss für jeden nachvollziehbar sein und unter den gegebenen historischen Veränderungen neu ausgehandelt werden.

Der von seinen Entführern misshandelte Reemtsma wird in seinen Tätern nur das Böse der Gewalt an sich sehen und nicht nach ihren Gründen, geschweige denn ihrer Verständlichkeit fragen. Das Kapital, das er in die Manipulation der bürgerlichen Öffentlichkeit investiert, lässt seine Herkunft aus der Ausbeutung anderer Menschen nicht mehr erkennen. Die Macht des Geldes wirkt nicht über Schläge, Gewalt und ist trotzdem gewaltförmig. Reemtsma kann sich ein linkes Image kaufen, irgendwelche intellektuelle Prostituierte lassen sich immer finden, aber die Lösung liegt nur in der "Expropriation der Expropriateure", der Enteignung der Enteigner.

Gewalt in der Bibel

In der menschenfreundlichen Bibel heißt es im Psalm 137,9: „Wohl dem, der deine (Babylons) jungen Kinder nimmt und zerschmettert sie an den Stein!“. Luther gibt hier eine denkwürdige Auslegung: „Der Fels ist Christus, die kleinen Kinder aber sind unsre bösen Triebe und Wünsche. Was soll man tun, wenn man diese Triebe und Wünsche spürt? Wie soll man sie überwinden? Antwort: wenn man sie an den Felsen Christus schmettert...“. Hier werden auf sehr gefährliche Weise Kindheit mit böser Triebhaftigkeit gleichgesetzt und es wird der ideologische Kern einer schwarzen Erziehung entwickelt. (Eine radikale Deutung versucht Petra Bosse-Huber.)


Gewalt in der Familie

In einer Familie kommt es zu einem Konflikt zwischen Geschwister. Es geht um schmutzige Handtücher. Der eine schreit auf den anderen ein. Die Mutter fängt auch zu schreien an. Der Vater hält die Mutter erst zurück, schreit schließlich auch und schlägt auf ein Kind ein. Mit gellenden Schreien und nach Luft japsend rennt das Kind in sein Zimmer. Alle haben Schuldgefühle und rechtfertigen sich aggressiv.

Was geht hier vor sich? Dieses Kind ist überzeugt, dass alle gegen es sind und sein Bedürfnis nach seiner Freiheit. Mit seinem Schreien gibt es seiner Wut darüber Ausdruck. Warum schlägt der Vater? Er empfindet seine Wut als ungerechte Anklage, als „böse“.

Die Familie bildet eine Gemeinschaft dadurch, dass die Mitglieder sich mit gegenseitigen Erwartungen gegenüberstehen. Diese Erwartungen führen zu Konflikten, wenn sie die Entscheidungen und Wünsche eines Mitglieds in Frage stellen. Das Schlagen ist, genauso wie es ausgrenzt, Ausdruck dieser gegenseitigen Abhängigkeit.

Im bürgerlichen Verständnis sind diese Gefühle – etwa von Wut, Zorn – zu unterdrücken zugunsten der Freiheit des Individuums, seiner Unabhängigkeit und Autonomie. Man mag es das Prinzip der „bürgerliche Kälte“ nennen. In einer metabürgerlichen Gesellschaft hat Verständigung Vorrang vor Unabhängigkeit.


Psychologie des Geschlagenen

Der Geschlagene fühlt sich identifiziert als böse, ausgestoßen. Er trägt eine innere Marke mit sich, fühlt sich als außerhalb der Gemeinschaft, in gewisser Weise „vogelfrei“. Er hat zu befürchten, immer wieder geschlagen zu werden. Schlimmer, er hat das Gefühl, dass dazu ein Recht besteht. Er hat Angst, ist schuldbewusst, hat kein Selbstbewusstsein, geht auf Distanz. Ihm bleibt of nur die Identifikation mit den Andersartigen. Manchmal scheint eine ganze Gesellschaft in Outlaws zu zerfallen und nicht nur die Geschlagenen zählen dazu, sondern alle anderen, die Schläge nur zu befürchten hatten.

Der Geschlagene kann auch einen „verschlagenen Charakter“ annehmen, das bedeutet, er täuscht vor, man kann ihm nicht glauben, was er vorspielt, man kann ihm nicht trauen. Er kann aber auch sadistisch werden und sich daran freuen, dass anderen das widerfährt, was ihm widerfahren ist. Oft ist das Leben von Geschlagenen von unbewussten Rachephantasien verdorben.


Die Versöhnung

Gibt es eine Lösung aus der Gewalt? Gewalt zerstört, führt etwas Anderes in die Gesellschaft ein, verändert. Gewalt kann nicht zurückgenommen werden, aber auch die Rache, das Recht und die Gerechtigkeit können das nicht wiederherstellen, was zerstört worden ist. Eine Versöhnung im einfachen Sinne der Anerkennung der Schuld, der Übernahme von Buße und Wiedergutmachung ist keine Lösung, denn wird die Ursache der Aufhebung des Gleichgewichts nicht weiter wirksam sein? Beziehungen können sich nur verändern, wenn sie von beiden Partnern als Schuld anerkannt werden. Im Grunde ist das ja in dem christlichen Vergeben und Schuldbekenntnis enthalten. Andererseits bleiben ein Schuldbekenntnis und eine Vergebung historisch nur bedingt folgenreich, wenn sie nicht konkret werden und neue Beziehungsstrukturen bewirken.


Wo Gewalt auftritt ist es ein Symptom einer schon lange vorsichgehenden falschen Entwicklung. Es hat keinen Sinn, nur das Symptom zu unterdrücken.

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