1.7.07

SOLIDARITÄT

Mit dem folgenden Text habe ich mich sehr schwer getan, deswegen auch die lange Pause. Es geht um Möglichkeiten einer anderen Politik in der Fabrik.
Begonnen hat das Problem mit dem Versuch, die Feindschaftsverhältnisse, in denen ich im Betrieb lebe, aufzuarbeiten. Was fehlt, so dachte ich naiv, das ist „Solidarität“, „solidarisches Verhalten“ und es ist die böse –von außen verordnete und verinnerlichte - Konkurrenz, die uns das Leben so schwer macht.
Dabei kam ich zu allerhand Relativierungen, Arbeit mit Begriffsverwirrungen usw. Mein Motiv, eine Attacke gegen meine Kollegen zu reiten, wurde mir (durch das politisch korrekte Nachdenken) verunmöglicht.

Um gleich zur Sache zu kommen: Ich habe einen Kollegen, zu dem ich anfangs eine gutes Verhältnis hatte. Sofort nahm er mich unter seine Fittiche, interessierte sich etwa dafür, welche Hobbys ich hatte. Von ihm bekam ich Einiges vom Betriebsablauf erklärt und es gab immer wieder Themen mit ihm zu bereden. Das Verhältnis wurde getrübt durch seine Kommandos und Befehle, die er mit dieser Patronage verband. Ich nahm das als die für einen Neuling nötige Belehrung in Kauf. Umgekippt ist das Verhältnis aber einmal dadurch, dass mit Einrichtung einer neuen Maschine er in die Position kam, von mir die Welt erklärt zu bekommen, was ja noch anging. Aber dann stellte ich fest, wie er gewisse Leute mobbte, Neue in einer sehr befremdlichen Art anherrschte. Dann sah ich ihn (billigen, illegalen) Kaviar verkaufen, hörte von seiner Liebe zu Militärdienst (in Moskau, der unfreundlichsten Stadt der Welt), notierte seine (dilettantischen) Tätowierungen, nervte mich an der Art und Weise, wie er Arbeit reduzierte und anderen überließ. Und irgendeinmal meinte ich sauer, wie er sich verhalte, wäre typisches Ostverhalten. Er war tödlich beleidigt. Ich wurde zu seinem Feind. (Der Vorteil für mich bestand darin, dass ich nun keine Probleme mehr hatte, mich von ihm abzugrenzen.)
Kann man von einem solchen Menschen so etwas wie solidarisches Verhalten erwarten, oder ist er, da auf eigenen Vorteil und die Demütigung anderer fixiert, hoffnungslos verloren für eine demokratische Bewegung?

Was bedeutet „solidarisches Verhalten“?
Das Problem dieses Begriffes liegt darin, dass er einmal einen Charakterzug, die Fähigkeit sich zu solidarisieren, nahe legt, dann eine moralische Tugend – in manchem identisch mit einem Charakterzug. Und dann kommt man wohl oder übel zu einem bürgerlichen Tugendkatalog. Diese Tugendbedeutung wird etwa benutzt von H.E. Richter in seinem Buch „Lernziel Solidarität“, oder in der 68er-Parole „Solidarisieren – Mitmarschieren!!“. Es kann auch eine aus der „Nächstenliebe“ religiös abgeleiteten Kategorie sein oder ein abstraktes Postulat, wie etwa für die SPD, die es dann je nach Lage fordernd einsetzt.
Natürlich wird es ein auf sein eigenes Überleben fixierter Fabrikarbeiter nie zu dieser generösen Tugend bringen. Schon zu Seinesgleichen ist das Mitgefühl dadurch unterbunden, dass der gleiche Andere ihm zum Konkurrenten wird. Wieso sollte er Mitgefühl für einen ausgebeuteten Chinesen aufbringen, wenn er durch ebendiesen seine Arbeit verliert. Oder um weniger abstrakt zu reden: Polen und Tschechen durchsetzen mit billigen Angeboten den Markt, den wir beliefern. Weshalb sollten wir für sie Entwicklungshilfe leisten und auf unsere Jobs verzichten?

Das Gefühl der Solidarität ist verbunden mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein, einer Selbstwahrnehmung von sich als Teil einer gemeinsamen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse. In einer Gemeinschaft treten sich die Individuen untereinander nicht als Konkurrenten gegenüber, sondern sie haben ein gemeinsames Ziel, für das sie gemeinsam zusammenarbeiten.

Diese Klassensolidarität wird aber zuerst schon dadurch verhindert, dass sich die Leute nur als Versager, als Defizitäre wahrnehmen können. Minderwertige finanziell, kulturell, sprachlich, schulisch. In den Medien haben sie kein repräsentierbares Bild. Dieser „Berufsstand“ kommt nicht vor. Wäre interessant, das Fernsehen, vor dem Leute bis zu 5 Stunden am Tag hocken, durchzuchecken, welche Arten von gesellschaftlichen Typen und wie abgebildet werden.
Sich als Gleiche mit gleichen Interessen zu erkennen bleibt den Fabrikarbeitern so weitgehend verwehrt. Selbst die Gewerkschaft tut alles, um Öffentlichkeit zu verhindern. Die ausgehandelten Tarife sind nur mit Schwierigkeiten einzusehen. Auch in den anderen Medien werden bewusst Informationen über Einkommensverhältnisse, wenn überhaupt nur unklar, nicht aufgeschlüsselt nach Klasse und Schicht, dargestellt. Oft sind Journalisten unfähig zur Analyse oder korrekten Darstellung von Statistiken. Es fängt meist an mit der fehlenden Unterscheidung von Brutto und Netto.
Definiert man Solidarität mit Identifizierung, stößt man auf das gleiche Problem. Die Menschen können sich zwar untereinander als Schweine, Asoziale, Antisoziale, als Defizitäre identifizieren – die anderen sind die gleichen Versager wie ich – aber nicht als soziale Subjekte.
Was ist der Unterschied? In der Identifikation trete ich in Beziehung zu einem anderen in Beziehung als einem Ähnlichen oder partiell Gleichen (Ein gemeinsamer Gegner kann ausreichen). Beim Aufeinandertreffen von sozialen Subjekten dagegen gehen diese von der Verschiedenheit aus und versuchen eine Einigung zu finden. Sie anerkennen ihre Unterschiede und versuchen darüber hinaus zu einer Gemeinsamkeit zu kommen.

Bei der gestrigen Verabschiedung einer Frau in die Rente werde ich wieder mit allen Varianten politischer und sozialer Ignoranz konfrontiert: Da ist die Fleischfraktion, die unbedingt viel Schwein auf dem Teller haben will, - kein Tag ohne Fleisch. Da ist die Fress- und Trinkfraktion, die trotz 100 kg möglichst viel in sich hinein zu löffeln versucht. Da sind die Autofahrer, die für die 5 km nach Hause – für mich auf dem Rad 15 Minuten mit Ampeln – 9 km fahren und im Urlaub natürlich fliegen.

Was heißt da solidarisches Verhalten?
Diese Individuen scheinen nur noch in einer Art von expansiver Selbsterhaltung zu leben. Das ist wohl eine Sicht von außen. Für sich könnten diese Leute alle möglichen Arten von sozialem Solidarisieren angeben: in der Familie, beim Feiern im Verein usw. Und sie könnten mir leicht vorwerfen, dass ich das nicht mache. Vielleicht wäre ich in ihren Augen ein asozialer Moralapostel, der den Menschen nichts gönnt.

Nun gut - wir saßen zusammen und wussten nicht recht, was wir miteinander reden sollten. In meinem Fall wird das der Leser vielleicht noch etwas erklärbar finden, bin ich mit dem Kopf ohnehin ganz anderswo. Ich habe trotzdem versucht, irgendwelche gemeinsamen Themen zu finden: Urlaub, Klimaanlage und dergleichen. Aber ich sehe, bei den anderen wird fast gar nichts geredet. Es zerfällt schließlich in Gruppen. Die einen sprechen jugoslawisch, die anderen russisch miteinander, die Rumänen saßen zu getrennt, um miteinander reden zu können und mussten dann über den Tisch reden – Sprüche klopfen. Der Anderskontinentale ist ganz raus gegangen. Und die isoliert sitzenden Volldeutschen sind stumm geworden. Das hat fast zwei Stunden gedauert.

Nicht, dass der Wille nicht da gewesen wäre. Man saß ja brav um den Tisch, aber es wollte nichts zusammen werden. Sieht man von den Versuchen ab, mit sexuellen Anzüglichkeiten breitere Zustimmung zu finden. Vielleicht, wenn die verschiedenen Grüppchen mehr zusammengerückt wären, hätte es vielleicht „geselliger“ werden können.

Es gäbe jetzt psychoanalytische Gruppendynamiker, die würden von gruppendynamischen Angstvermeidungstechniken reden. Da sind Kampf-Flucht, Paarbildung, Idealisierung des Führers. Die beherrschende Angst ist die vor der Entmachtung und Entwertung („Kastration“) durch den Führer. Die Überwindung des Ödipuskomplexes würde erst das freie Sprechen über seine Probleme, Bedürfnisse, Interessen ermöglichen.
Wir sind – Chef, gut oder nicht – ein autoritärer Laden. Wir sind nicht gewohnt, uns selbst zu organisieren. Durch die Konkurrenz gezwungen stehen wir uns feindlich gegenüber. Die Macht des Arbeitgebers macht unsere Stellung prekär.

Die Autonomie ist eine gebrochene. Sie befähigt zu Freund-Feind-Verhältnissen, hat aber keine organisierende Kraft, die allgemeine Interessen ausdrücken könnte. Ihr fehlt auch der Wille zur Einigung, stolpert immer gleich in Feindschaftsverhältnisse. Entsprechend verhalten sich die Individuen verantwortungslos gegenüber einem allgemeinen Interesse. Vernunft, die ein solches allgemeines Interesse formulieren würde, steht nicht mehr zur Diskussion. Das, was man hier beobachten kann, lässt sich auch beobachten in der öffentlichen Debatte um allgemeine Rechte, etwa Ausbildung, Einkommen, Arbeit.
Die Sache geht von unten nach oben. Wenn der Chef vom wirtschaftlichen Verlauf der Firma spricht, dann von den Erfolgen der Firma auf dem Markt, da wo sie diesen Vorsprung wieder herzustellen hat. Das Kartell, also Absprache über eine Aufteilung des Markts, widerspricht dem Wesen der Konkurrenz, obwohl im Kern nicht unvernünftig.


Die Verabschiedung zeigt aber auch, dass Solidarität auch bedeutet, über die eigenen Interessen hinaus zu denken. Solidarität ist mehr als Gruppeninteresse. Solidarität schließt letztlich alle mit ein. Sie geht auch über einen nationalen Horizont hinaus. Das bringt nun auch den Aspekt des Wissens (um die Lage anderer Menschen) mit herein. Ein andere Sache ist die der Einstellung, geformt durch Wissen, Bewusstsein, Moral (etwa: alle Menschen sind gleich) sich mit anderen zu solidarisieren. Wird auch Menschlichkeit genannt.

Exkurs Moral: Eine utilitaristische Moral begründet sich mit der Erfahrung, während eine humane Moral prinzipiell ist, also an Geboten festhält, auch wenn sie keine Belohnung mehr finden.

Führt aber ein solcher Begriff von Solidarität, der über einzelne Gruppeninteressen hinausgeht – was die Leninisten „gewerkschaftlich“ oder „syndikalistisch“ nennen – nicht zu jenem bürgerlichen Tugendkatalog und Verhalten, das die Mittelklasse und das Bürgertum in ihrer Politik so gut verstehen? Für Lenin etwa ist nur eine Elite in der Lage, die kommunistische Idee zu begreifen, ebenso wie jeder hiesige Sozialarbeiter, Politiker oder Gewerkschaftler seinen Klienten die Fähigkeit absprechen würde, in allgemeinen gesellschaftlichen Normen zu denken. Ihre Selbstbegründung liegt ja gerade darin, etwas zu vertreten, was die anderen – sei es aus taktischen, intellektuellen, charakterlichen oder moralischen Gründen so nicht können. „Politik“ heißt in Abgrenzung zur reinen Interessenvertretung Individualinteressen als Teil von oder in Berücksichtung von „Gesamtinteresse“ zu vertreten. Sie damit konsensfähig zu machen. Das ist etwa die Bemühung des Keynesianers Hickel, der regelmäßig wiederholt, dass hohe Löhne zu einer allgemeinen Wirtschaftsbelebung führen.
Die Lohnhöhe ist aber keine soziale Größe, sondern eine verdinglichte Form davon.
Rechte dagegen sind Begriffe, nicht real existierend, erst herzustellen, nicht verlässlich. Sie werden immer wieder ausgehandelt und vereinbart. Sie erfordern Verhandeln und Diskussion miteinander, das Suchen nach allgemeinen Zielen und Werten.
Eine Gesellschaft aber, deren Zentrum das Geld ist, sei es als Lohn oder Profit, braucht dieses Aushandeln von gesellschaftlichen Zielen nicht. Vorrang hat die Anpassung an das, was Geld oder Profit bringt. Geld verhält sich zur Gesellschaft vereinfacht gesprochen wie Milch zur Mutter. Als Kinder wachsen wir in einer Beziehung zur Mutter auf. Dabei ist die Muttermilch etwas worin sich dieses Verhältnis „materialisiert“. Milch ist die Materie, aber das Verhältnis zur Mutter entzieht sich materiellen Bestimmungen, ist eine Sache von Gefühlen, Sprache, Kommunikation, Gemeinsamkeit usw. Wird dieses Verhältnis aber problematisch und unberechenbar, - dann wird es fixiert auf seine Materialität: x ml Milch, x Pflegeeinheiten, das oder jenes Erziehungsverhalten, Rollenverhalten. - Mutter und Kind stehen sich dann fremd gegenüber. Die gemeinsame Beziehungsgemeinschaft, wo jeder mit seinen Äußerungen a priori Anerkennung findet, wird aufgelöst in eine Aufzuchtanstalt mit definierten Rollen und Rechten, vergleichbar einem Kuhstall. Oder wie es dann zynisch formuliert wird: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. In der gleichen Logik gibt es im Kapitalismus eine Priorität der „Materie“ vor den sozialen Beziehungen. Dinge vor durch Handeln bestimmte Beziehungen.
In der Schule lernen dann die Schüler etwas, was ihnen später Geld bringt, nicht sich zu äußern und miteinander verständigen.
Eine soziale Beziehung ist auch mehr als ein Rollenkatalog von Rechten und Pflichten, es übersteigt etwas Definierbares. Grundelement ist die Anerkennung des Anderen. Es lässt sich auch nicht auf Austausch von irgendwas reduzieren (Etwa wie Kant es tut in der Definition der bürgerlichen Ehe als einer „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“)

In der Fabrik dagegen werden entsprechend dieser „materialistischen“ Logik oder einer Dominanz des „Faktischen“ in den Arbeitsverhältnissen gesellschaftliche Forderungen nicht gestellt. Etwa: Betriebsdemokratie, demokratische Ausbildung, Befähigung zu Selbstverwaltung und politischen Autonomie. Nein, in den Augen der Arbeiter ist die „Wirtschaft“ ein hochkomplizierter und unbeherrschbarer Mechanismus, bestenfalls eine Kuh, an deren Euter man irgendwie rankommen muss.
Stattdessen wird der gesellschaftliche Status - so wie jemand Ansehen hat und Einfluss auf andere ausübt - eine Sache der Dinge, die sich jemand leisten kann: Bildung, Kleidung, Freizeit, Einkommen usw.


Die Aktentasche des Chefs
Der Chef wird 40. Grund oder nicht – jedenfalls wird von dem Kreis der Vorarbeiterin und Betriebsratsbewerberin – alles Gewerkschaftler – Geld gesammelt für ein Geschenk für ihn. Zuerst 2,50 €. - Meinetwegen, soll erhaben. Andere, Kollegen, wurden 50 Jahre alt - ohne Sammlungen.
Jetzt kommt sie wieder. Das Geld für die Aktentasche, die sie ihm schenken wollten, würde nicht reichen. Sie bräuchten noch einmal 2,50 €. Ich werde sauer: „Wir sind hier doch nicht in der Schule. Das ist doch Personenkult. Er ist doch kein König. Der verdient drei, vier Mal soviel wie wir. Bei anderen wird auch kein solches Geschiss gemacht.“ - Sie meint: „Aber der Chef ist doch so gut zu uns.“

Das ist jetzt nicht nur spezifische – manchmal sehr angenehme - Aussiedlermentalität, die gewohnt ist, sich mit ein bisschen Geben (und Nehmen) menschlich gute Kontakte zu halten. Das ist auch nicht nur das Wohlverhalten des weiblichen Geschlechts, wie man es von der Schule her kennt. Es zeigt auch die untertänige, obrigkeitsdevote Haltung, die bei vielen Arbeitnehmern besteht.

Bei den Ostemigranten gibt es dazu eine natürliche Solidarität mit dem warenproduzierenden System. Sind sie ja nicht ausgewandert, um neue Beziehungen einzugehen, sondern um an den Produkten des Kapitalismus „teilzuhaben“. (Nicht zu vergessen natürlich die Barbarei in den Gesellschaften des Ostens. Fraglich aber, ob sie hierher gekommen, um an einer gerechteren und mehr solidarischen Gesellschaft teilzunehmen.)


Zwar mag in den Köpfen meiner Kollegen die Warenwelt oberste Priorität haben, so sind doch in jedem Menschen Vorstellungen, Gedanken über Gerechtigkeit vorhanden. Diese freilich sind in der Regel sekundäre. Wie wir ja im Allgemeinen zuerst handeln und uns dann die Rechtfertigung ausdenken, und die oft erst, wenn wir danach gefragt werden. Die Gerechtigkeitsvorstellungen dürften wohl so aussehen: Ich arbeite und bekomme dafür Lohn. Wer nicht arbeitet, bekommt keinen Lohn. Wer viel arbeitet, bekommt mehr Lohn. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (Paulus). Und irgendwo ist da auch noch angesiedelt: „Wir werden beschissen, wir haben und bekommen zuwenig, wir haben Hunger nach mehr.“ Einerseits. Und aber auch, andererseits: „Wenn es der Firma – der Wirtschaft - gut geht, geht es uns gut.“ Und so sind sie ohne es bewusst zu wollen mit dem System verkettet.
Die jenseits dieses Systems denken, werden sie aussortieren als: Kommunisten, Chaoten, Spinner usw. Und sie werden einen Kampf für eine aussichtslose Sache ablehnen, bzw. einen Boykott der Kompromissler, die ihren Lohn mit dem kapitalistischen System vereinbaren wollen.


Inwieweit ist Solidarität doch eine Charakterfrage?
Menschen sind durch das Aufwachsen in einer gewissen Umwelt nicht mehr in der Lage, andere Menschen als mit sich selbst gleiche sehen, oder solche, die ähnlich wie sie selber denken und fühlen. Durch die Erfahrung, dass sie von anderen Menschen nur in Nachteil gesetzt werden, geht eine vertrauensvollere Sicht der anderen Menschen verloren. In der Verallgemeinerung dieser Erfahrungen wird es zum bösartigen Charakter.
Jetzt könnte man optimistisch einwenden, dass im konkreten Fall sich die Individuen verändern und ihren Egoismus aufgeben, dass der Mangel an solidarischem Verhalten eine Frage vor allem der praktischen Projekte wäre.
Ich gebe zu, dass wenn solidarische Projekte zur Debatte stehen würde, sie mit der Beteiligung auch derer rechnen könnten, die sonst nur misanthrope (menschenfeindliche) Konzepte anwenden. Solche misanthrope Konzepte sind: Kontrollverhalten, Identifikation mit oder Benutzen von Macht und Autorität, Demütigung anderer, bis hin zur Gewalt.
Das Problem aber besteht darin, dass solche Projekte eben auf Grund der politischen Machtverhältnisse, der Medien, nicht zur Debatte stehen. Sie bräuchten eine Reflexionszone, einen Raum, wo miteinander gesprochen werden könnte, wo sich Individuen treffen, die gewisse Grundsätze des sozialen Verhaltens – kein Mobbing, keine Denunziationen, Gleichberechtigung usw. – einhalten. Deswegen wird man Initiativen aus diesem Bereich kaum erwarten können. Die Grundbedingungen fehlen einfach.

Also ist Solidarität, sich mit anderen zu identifizieren zu können, doch eine bürgerliche Tugend?
Es gibt in der Mittelschicht eine gewisse Liberalität, eine scheinbare Offenheit. Sie findet aber schnell dort ihre Grenze, wo die eigenen Vorteile und Privilegien in Frage gestellt werden oder in Gefahr geraten. Für mich selber war der Umgang mit Bürgerkindern eine ambivalente Erfahrung. Einerseits haben sie einen weiteren geistigen Horizont, können sich integrativ verhalten - andererseits werden die Unterschiede bald bewusst. Sie verstanden sich ihre Pos(i)t(ion)en zu sichern, sich bei aller Rede von Revolution etc. materiell und standesgemäß abzusichern.
Die Solidarität verwandelt sich im Bürgertum in Wohlfahrt. Auf der Basis einer überlegenen Position. Von oben.


Ist ein Umlern- und Umdenkprozess möglich?
Er hätte verschiedene Bedingungen:
- Die Struktur des Systems der individuellen Vorteilnahme und wie es sich im individuellen Verhalten reproduziert, müsste bewusst werden
- Projekte der Demokratisierung in den Institutionen, vor allem Schule und Betrieb müssten entworfen, ausprobiert, reflektiert werden können.
Das wird nicht möglich sein, da die herrschende Klasse mit allen Mitteln über Medien, Technik, Arbeitsorganisation die Idee von Gleichheit, fairer Gesellschaft zerstören wird.


ZUR METHODE
Man kann mir vorwerfen, dass ich mich gegenüber der Arbeiterklasse mit solchen Analysen elitär und arrogant verhalte. Aber frei nach Kant, kann sie sich aus ihrer Unmündigkeit nur befreien, wenn sie diese als zu einem Teil selbstverschuldet erkennt, wenn sie den eigenen Beitrag an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse ihrer gesellschaftlichen Entmachtung erkennt.
In der Regel dreht sich „linke“ Politik darum, dass man auf einen Gegner eindrischt, die Repression beklagt, die Ungerechtigkeit usw. Aber man schafft sich dadurch bestenfalls Parteigänger, Anhänger usw. - und zerstört das Projekt einer autonomen Klasse. Wir sind dann im Bereich der Parteien, des Antifaschismus (der Gymnasiasten gegen die Hauptschüler), der Bekämpfung des Bösen – ohne dass sich die gesellschaftliche Stellung der Anhänger verändert. Die soziale Revolution ist keine Parteisache. Alles andere als eine Demokratisierung der Basis interessiert mich nicht. Es wären nur Bewegungen an der politischen Oberfläche.
Das andere Elend der „linken“ Politik, in direktem Zusammenhang mit der Bekämpfungspolitik, ist ein Materialismus der Forderungen. Mehr Lohn, mehr Staatsgelder usw. – nicht aber eine andere Stellung der Menschen, andere Beziehungen.
Nur in einer „Aneignung des Produktionsprozesses“ ist eine Autonomie möglich. Das geht natürlich über Fabrikproduktion hinaus. Es beinhaltet die Reflexion der Fragen:
- Was brauchen wir? Was sind die Ressourcen?
- Wie produzieren und verteilen wir?
- Wie organisieren wir es möglichst demokratisch?

Es gibt – so kann man einwenden – keinen Adressaten für meine Gedanken. 0 Kommentare, das spricht wohl für alles. (Ich hätte auch Angst vor deren Kritik). Meine Gedanken, they are blowing in the wind … Oder, schlimmer noch: sie richten sich in Sprache, Theorieanspielungen an ein bürgerlich gebildetes (linkes) Publikum – also gerade jenes, das es immer wieder bekämpft. Schon gar nicht an die Arbeiter, Kollegen. Wollte ich wirklich was ändern, warum ginge ich dann nicht in die Gewerkschaft?
Dazu meine Antwort: Ich werde an dem Verlauf der Geschichte nichts ändern. Ich kann nur das Verhängnis zeigen. Warum sich nichts wirklich ändert. Was die Richtung wäre, wie sich etwas wirklich verändern könnte. Meine Hoffnung ist nicht die Krise. (Wie es sein wird, wenn es so weiterläuft, wird noch zu beschreiben sein).
Ich schreibe das auch nicht als Arbeiter, sondern als „arbeitender Nachdenker“. Das Wort „Intellektueller“ wird ja besetzt für die bürgerlichen Schwätzer, finanziert von ihren bürgerlichen Verlagen. Hätten sie den Begriff wirklich verdient, würden sie an dem festhalten, wie es eigentlich sein müsste. Das ist nur eine kleine Zahl. Noch ein kleinere, die sich um Basisdemokratie Gedanken macht.

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