22.7.07

CHRISTENTUM UND INDIVIDUALISIERUNG

Die Rolle des Christentums und des Opfers in der Geschichte der Individualisierung
War Jesus ein Individualisierer?

Ist nicht die Vorstellung eines einzigen Gottes, der Monotheismus, das Vorbild und die Grundlage für die Idee des modernen Individuums?
Schaut man sich die Geschichte der letzten 2000 Jahre an, könnte man auf die Idee kommen, dass die heute ins Extrem gesteigerte Individualisierung – Symptome wären zu benennen – ihren Anfang nahm im Gebet des Individuums zu Gott. Und ist doch die Bibel voll mit nonkonformen Individuen, den Propheten, die aus der Reihe tanzen, das Volk anklagen, ihm nicht nach dem Munde reden, es vielmehr zur Bekehrung, zur Wende, zur Reue auffordern.
Der moderne Individualismus stellt sich dar als die immer größer werdende Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenüber einem Kollektiv: Konsumfreiheit, Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit, Vertragsfreiheit. Seine gesellschaftliche Bindung und Verpflichtung reduziert sich auf die Einhaltung staatlicher Gebote und Verbote, auf die Einhaltung zivilrechtlicher Verträge. Während auf der einen Seite die Freiheit des Individuums wächst, vermehrt sich gesellschaftlich gesehen aber auch seine Ohnmacht. Die Gesellschaft desintegriert sich in Schichten, Gruppen – Pluralismus verschiedener Werte. Paradoxerweise wird von Individualisierung gesprochen in einer Zeit, in der immer mehr alle mit allen verbunden sind und die gesellschaftliche Integration in den Arbeitsprozessen immer höher organisiert ist.

Denkt man weiter darüber nach, wie es zu dieser Individualisierung gekommen ist, wird man zur Ursprungsgeschichte der Individualisierung gelenkt, dem Verzicht des biblischen Gottes auf das Menschenopfer bei Abraham und Isaak. Ich halte das für den entscheidenden Bruch. Die Menschheit hat sich damit freilich ein Doppeltes eingehandelt: einerseits die Garantie auf körperliche Unversehrtheit des Individuums, das nun sich selber frei zur Verfügung steht und nicht mehr nur Gottes Eigentum ist, andererseits die Ablösung der physisch-körperlichen Gottesbindung durch Opfergaben; der Widder tritt an die Stelle Isaaks. Das ist nichts anders als die Einführung des Tauschverkehrs in das religiöse Verhältnis. Individuum und Geld, Individuum und Privateigentum gehören zusammen. (Noch hat es nicht die Form von Kapital und Mehrarbeit angenommen). Ein Individuum existiert erst mit seiner Freiheit, dem Eigentum an sich selber. Dazu braucht es aber des gesellschaftlichen Besitzverhältnisses an Dingen. Die jüdische Religion inszeniert mit Gott ein Tauschverhältnis, das zwanghaft an bestimmte Rituale und Opfergaben gebunden ist. Ebenso die römische Religion und Staatsideologie des „Do ut des“ – geben, um zu bekommen -, die von Ritualien oft so oft Wiederholungen verlangte, bis sie endlich fehlerfrei vollzogen waren und so die Gunst der Götter erwarten ließen.
Welche Rolle spielt da nun Jesus, der sich ja wieder physisch-körperlich opfert? Es gibt zahllose theologische Spitzfindigkeiten, um diesem scheinbaren Unsinn einen Sinn zu geben. Sie interessieren mich hier nicht.
Ich rekurriere stattdessen auf Marx, der sagt, dass die entfremdeten gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ihnen nun in der Warengesellschaft vermittels der Ware - bzw. der allgemeinen Ware Geld - erscheinen als Beziehungen zwischen Dingen (Ware = Geld = Ware = Arbeitskraft = Lohn usw.). Für Marx ist das eine Wirklichkeitsverfälschung, die in sich das dialektische Gesetz hat, dass immer wieder die ursprünglichen menschlichen Beziehungsverhältnisse daraus hervorbrechen, wenn auch verzerrt etwa als Klassendiktatur, Fabrikfaschismus. Aber auch schon immer jenseits der Tauschverhältnisse als Liebe zwischen Menschen und eben auf einer allgemeinen Ebene der Religion – sei diese falsch oder nicht. Das heißt der Individualismus, der in sich eine entfremdete verdinglichte Erscheinungsform von Beziehungen ist, hat die Tendenz, immer wieder zu zerbrechen und sich in Beziehungsverhältnisse anderer Art jenseits der Tausch- und Eigentums- und Identitätsverhältnisse zurückzubilden. Neutraler wäre der Ausdruck: „sich wegzuentwickeln“.
Das ist der Fall bei Jesus. Er verlangt bedingungslosen Gehorsam für einen Gott (der nur noch durch Schriften präsent ist). Er will diesen Makel des Menschen, seine „Bedingtheit“ (im Eigentum) und Begrenztheit (individuelle Sterblichkeit) wieder zu Gunsten einer großen Familie („werdet wie die Kinder“, „Gotteskinder“) im ewigen Leben auflösen. Dafür muss er aber – um sich zum Eigentum und Sklaven Gottes zu machen (Paulus, Römer 6) – diesen Pakt Gottes mit Abraham wieder rückgängig machen. Also die Tauschverhältnisse, wie sie im Opfer von Tieren etc. enthalten sind, werden wieder auf das Menschenopfer, Sklavenverhältnisse und familiäre Verhältnisse zurückgeführt. Es geht nicht darum, das zu denunzieren. Es waren die Beziehungen, die Zugehörigkeit oder Verbundenheit ermöglichten. Sucht man den Kern der Lehre von Jesus, so ist es die Erzeugung menschlicher Zugehörigkeit. Die „Bindung“ oder „Zugehörigkeit“ ist aber da, wo sie nicht begreiflich erfolgt, immer das Einfallstor für den Autoritarismus.
In der christlichen Theologie kommt es zu dem Paradox, dass sich Jesus einerseits als (letztes) menschliches Opfer darstellt, die Individualisierung also revidiert, andererseits die individuelle Schuldkonstruktion verschärft mit einer Menge nicht einhaltbarer Gebote (Nächstenliebe, Armut usw.) Er stirbt für uns und erwirkt sich damit das Recht, neue Schuldforderungen – Glaube! – zu erheben. Einerseits ist Jesus in seinen Forderungen ein „Sozialist“ oder „Kommunist“ ist (Eigentum, Armut, Gehorsam etc.), andererseits führt er aber durch sein Menschenopfer wieder ein archaisches Gehorsamsverhältnis ein, das vor der Tausch- und Eigentumsgesellschaft existiert hat. Deswegen ist die Anerkennung der Sklaverei durch Paulus keine Verirrung, sondern ein religiöses Prinzip. Damit gequält haben sich die christlichen Sozialtheoretiker, etwa Augustinus, weil sie es nicht geschafft haben, diese archaischen Verhältnisse in der sozialen Wirklichkeit der Tauschgesellschaft herzustellen, die über eine mystische oder fantasierte Union im Sakrament hinausgehen. Daran leiden auch die gut gemeinten Vorschläge des Katholiken
Hengsbach heute. (Er sieht nicht die Dialektik von Wertform und Moral).
Wenn die Kirche die Familie als Ideal, Kernzelle usw. propagiert, hat das viel mit ihrem regressiven Hang, aber wenig mit dem Konzept des Jesus zu tun (Matthäus 19,29). Anders steht es um geschwisterliche Beziehungen innerhalb der Gemeinde. Dass Jesus die Familie derart manifest ablehnt, hängt wohl damit zusammen, dass die Familie im Gegensatz zu einer universellen Gesellschaft steht, zu Abgrenzung und Rückzug, zu Privateigentum neigt.

Eigentlich bietet das im Neuen Testament überlieferte Christentum verschiedene Varianten an: die streng tauschorientierte jüdische Auslegung, die sich um die penible Einhaltung von Ritualien und Gesetzen dreht, und die andere, am Geist der Gebote orientierte Auslegung der Gesetze, orientiert an den Schätzen im Himmelreich. Diese Schätze im Himmelreich sind aber nicht durch Tausch an sich erwerbbar. Das Prinzip, mit dem man sie erwirbt ist undurchsichtig – Sache Gottes. Mal gibt es Tauschäquivalenz (gute Taten - guter Lohn - schlechte Taten - Hölle), mal nicht (alle Arbeiter bekommen den gleichen Lohn). Ursache für diesen Wirrwarr, an dem die Kirche noch ewig zu rätseln hat, ist der Versuch von Jesus die Tauschverhältnisse religiös zu revidieren. Da aber Gott mit einer Logik der Gerechtigkeit verbunden sein muss und das Denken der Tauschgesellschaft schon bestimmend ist, sind mal die guten Taten für das himmlische Weiterkommen, mal die geschenkte Gnade Gottes entscheidend. So wie es Jesus bedeutungsvoll sagt bei Matthäus 19,26: „Für Gott ist alles möglich“. An diesem Widerspruch hängen bleibend werden sich später Theologen und Völker die Köpfe einschlagen; denn für sie ist das unmöglich.


Welche Rolle spielt Luther, selber Sohn eines Bergwerkbesitzers, in diesem Dualismus von archaischer und Tauschgesellschaft? Es heißt ja über ihn:
Er verlagert die Entscheidung, was als göttlich gewollt angesehen werden könne, von der Amtskirche auf das Individuum und gesteht damit dem Menschen volle Glaubensfreiheit und daraus folgend auch Entscheidungsfreiheit zu.
Auf diesem Grundgedanken basiert insbesondere auch die Aufklärung.

Luther trennt zwischen Leib und Seele. Die Seele ist frei, wenn sie an Jesus glaubt – von Luther vage definiert – und durch den Glauben erlöst. Der Leib, das ist eine andere Sache. Er braucht nicht die Werke, das Fasten, die Riten. Sinnvoll mag das nur sein wenn es einer gläubigen Seele entspringt.
Also Luther schafft durch diese Trennung zwei voneinander unabhängige Bereiche. Am Ende interessiert er sich aber nur für die Seele: das Evangelium, das Beten, der Ausschluss der Ungläubigen. Der Glaube wird entmaterialisiert. Gleichzeitig wird der materielle gesellschaftliche Bereich autonom – das ist die Sphäre der Gesellschaft, der Tauschverhältnisse, der Politik usw. Das ist die Basis des nun von religiösen Verpflichtungen befreiten Menschen. Hier stellt sich nicht mehr die Frage von Arm und Reich, von gesellschaftlicher Ordnung, von sozialer Verantwortung. Nicht dass sich Luther da nicht eingemischt hätte, aber es ist ein sekundäres nicht mit der Religion direkt verbundenes Problem.
Die Konzeption der Gnade durch Luther lässt sich nicht einfach in eine Legitimation des nun im Warentausch „freien“ Bürgertums ummünzen, genauso wenig wie für eine Begründung feudaler Macht (etwa bei der Abschlachtung der Bauern). Vielmehr wird von ihm hier wieder eine Utopie erneuert, mit der einmal das Paradies beschrieben wurde. Dort war Arbeit Adam eine Art von Unterhaltung gegen die paradiesische Langeweile. “
Damit er nicht müßig ging, gab Gott ihnen etwas zu schaffen“. In diesen Zustand soll den sündigen Menschen die Gnade zurückversetzen, ihm das Gefühl gegeben, einfach zu sein dürfen, unabhängig von Erfolgen und nach allen Niederlagen. (So etwa Steffensky). Hier wird aus der sozialen Utopie noch eines Augustinus, die maßgeblich für die feudale Gesellschaft des Mittelalters war, eine individuelle und religiöse. Wie überhaupt heute religiös und individuell für uns heute zusammenfällt. Das Konzept der Schuld, Sünde, Glauben usw. ist keines einer gesellschaftlichen Verfassung oder Beziehungsstrukturen, sondern eines von Individuen.

Aber macht nicht die Gnade das Opfer sinnlos oder überflüssig? Weswegen sollte ein barmherziger Gott das Opfer von Jesus nötig haben? Was ist das für eine Barmherzigkeit? Ich weiß nicht, wie Luther das sieht. Mir scheint, er hat das Opferverhalten von Jesus nicht wirklich verstanden. Es war kein Tauschgeschäft, das ab jetzt Gnade und Barmherzigkeit möglich macht. (Jesus ist ein Feind der Händler, er vertreibt sie aus dem Tempel.)
Noch andere Fragen dazu:
Hat Jesus sich selbst als das Opfer verstanden, als das es dann die Evangelisten und Nachfolger interpretiert haben oder ist er eher ohne bewusst zu Wollen in die Mühle der Justiz geraten?
Welche Art von Zugehörigkeit, Community oder Gemeinde wollte Jesus begründen?
Das Wort ist Fleisch geworden, heißt es, aber welches Wort? Ist es nicht ein Problem des Christentums, dass das bisschen Fleisch das es geworden ist, sehr schnell wieder gestorben ist, um – paulinisch – als „Geist“ wieder aufzuerstehen?
Ist nicht die Entmaterialisierung des christlichen Lebens, die Luther an Paulus, Augustinus, die Griechen, die Gnosis, die Manichäer anknüpfend, eben die Verhinderung der Fleischwerdung des Wortes?
Könnte man nicht eher sagen: das Wort, also den Begriff, den die Menschen über ihre wahren sozialen Verhältnisse und Gemeinde haben, ist Geld geworden – „dem Kaiser, was des Kaisers ist“.
Ist Gemeinde, Gesellschaft, Gemeinschaft religiös derart „entmaterialisiert“, wird Zugehörigkeit zu einer Gemeinde reduziert auf Partizipieren an Symbolen und Ritualen. Es fehlt ihnen Fleisch und Blut und reduziert sich auf Hostie und Messwein. Das wirkliche Leben wird auf das Negative und Böse projiziert. Die Gemeinde wird durch Autorität und Ressentiments gegen die Außenstehenden, die Juden und Heiden, zusammengehalten. Es ist negative Gemeinde.
Diesen Mangel soll die christliche Caritas überbrücken. Dabei verhält es sich bei ihr wohl wie mit der christlichen Hospiz - von Illich so beschrieben: In dem Maße, wie in Europa Hospize aufgebaut wurden, nahm die gewöhnliche Gastfreundschaft ab.

Andere Frage: Wie verhält sich der individuelle Tod zum Opfer? Über kurz oder lang fordert ja Gott - christlich von jedem das Opfer. Das Leben bis dahin ist nur ein Geschenk, eine Gnade. Die Gnade ist die Zivilisierung des religiösen Verhältnisses, eine Art Waffenstillstand bis zum Tode. Dann nimmt Gott wieder, was er gegeben hat. Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen. Auch der Dankbarkeitskult der Christen baut auf diesem göttlichen Eigentumsverhältnis auf, das immer zugleich ein Opferverhältnis ist. (Der Dankbarkeitskult, der en passant die gesellschaftlichen Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse weglügt: Kein Gedanke beim frommen Tischgebet an den Arbeiter, der dieses tägliche Brot erschunden hat.)

Den Rekurs des Christentums auf die Vortauschgesellschaft zeigt das Sakrament der Kommunion, im Grunde ein kannibalischer Akt des Verzehrs von Fleisch und Blut eines Menschen. Uns mag die kannibalische Welt grausam erscheinen, der Rekurs darauf pervers, aber die Riten haben innerhalb deren Welt nicht diese grausame und perverse Bedeutung. In dem Sakrament der Kommunion wird aus den Individuen eine Gemeinde: ein Leib (Römer 12,5), wie in der „unio mystica“, der mystischen Verschmelzung des Individuums mit Gott.


Um das Denken vor der Tauschgesellschaft zu verdeutlichen möchte ich noch auf das Töten von Tieren und die Beziehung zum Opfern eingehen. In der der Tauschgesellschaft vorausgehenden Jägergesellschaft, in der wohl Kannibalismus und Menschenopfer Brauch waren, ist dieses Menschenopfer keine Bestialität usw., sondern eine Art von Ausgleich mit dem umgebenden Universum. Die Menschen töten die Tiere und müssen sich deswegen selber opfern. Das Opfer stellt die Ordnung wieder her.
Heute, wo man gedankenlos Tiere tötet und frisst, ist dieser Ausgleichsgedanke verloren gegangen und alles wird getan, um sich ein sauberes Image zu erhalten: die gefliesten Schlachthöfe, der Horror vor realem Blut überspielt. Die Fleischerhaken in Plötzensee, Auschwitz hat sich an diesen Schlachthöfen orientiert. Der Menschen beginnt so über sich zu denken, wie er über die Tiere denkt. Dagegen kämpfen Menschen verzweifelt und bewusstlos um jeden Lebenstag. Der Tod, der in der Weltsicht der vorindividuellen und vortauschbezogenen Gesellschaft noch ein Element eines kosmischen Kreislaufs war – so nehme ich an! – verliert vollends seinen Sinn, ist nur noch ein Ende und nicht mehr Beginn für etwas Neues. Wir würden unseren Tod anders sehen, wären wir uns der Tatsache bewusst, dass die Tiere für uns sterben, dass wir ihr Leben verzehren, um unseres zu haben, vielleicht hätte der Tod für uns Menschen eine andere Bedeutung, würden wir uns unseren „Opfern“, den Tieren „angleichen“. Unser Bewusstsein von Leben und Tod würde sich verändern. „Opfern“ wäre dann ein Übergang von einem Zustand in einen anderen. Wir können das freilich nicht mehr so denken wie die Sammler und Jäger. Für sie hatten die Dinge der Welt einen anderen Charakter als für uns. Man denke an das magische Denken, an das Besetztsein der Natur mit Geistern. Dinge, die sich dadurch in andere verwandelten, Ausdruck und Symbole eines Anderen waren, anderer belebter Wesen. Dagegen beschreibt die Naturwissenschaft heute die Dinge als unserem Seelenleben fremde Elemente, Der Begriff der „Verdinglichung“ beschreibt diesen Übergang aus einer belebten in die tote physikalische Welt von heute.
Wir können diese Verdinglichung nicht mehr rückgängig machen, uns nicht einreden, hinter den Dingen wären irgendwelche Geister. Und doch sind in uns die Stimmen geblieben, die nun nicht mehr aus dem Dornbusch sprechen, die Gefühle, die Trauer über die verloren gegangenen Beziehungen, die Wünsche, die noch leben, die Hoffnungen. Das Lebendige ist zum „Innenleben“ geworden, das sich hin und wieder in den Verbindungen der Menschen realisiert.

Die Individualisierung, die Luther erneuert und für die Moderne in ein Evangelium gefasst hat, ist nicht mehr als eine symbolische. Sie abstrahiert von den tatsächlichen sozialen Zusammenhängen, in denen das Individuum steht, sie abstrahiert auch von seiner sozialen Bedürftigkeit, seinen sozialen Antrieben, von Eros und Aggression. Diesen Bereich macht sie von Religion frei und damit von moralischem Verhalten und gesellschaftlichem Diskurs. Das bedeutet auch, dass jenseits von Caritas kein sozialer Diskurs mehr bindend geführt werden muss. Es ist Privatsache. Und es ist so kein Wunder, wie die protestantische Kirche in die Verbrechen der letzten Jahrhunderte hineingestolpert ist.

In einem anderen Zusammenhang will ich noch einmal auf die Rolle des Opferns im heutigen menschlichen Leben hinweisen. Es sind die umstrittenen Theorien von Hellinger. Seine Kritiker subsumieren die Erfahrungen in den Familienaufstellungen auf inszeniertes Theater. Wenn es so ist oder wäre, dann lässt sich fragen, woher die Überzeugungskraft der durch Familienaufstellungen hervorgerufenen Gefühle herrührt : Offensichtlich gibt es ein Reservoir solcher intensiven Gefühle in uns und sie sind nicht nur in diesen „Inszenierungen“ aktiv, sondern auch im täglichen Leben im Hintergrund bestimmend.
In unserem Gefühlsleben spielt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eine große Rolle – sei es Familie, Nation usw. – und das Gesetz, dass dort Gerechtigkeit und ein Ausgleich herrsche. (Begriffe, die Hellinger bekämpfen muss, weil er neoliberal statt dialektisch denkt, um seiner eigenen Theorie zu entrinnen). Hier kommt es im Selbstmord, im Verzicht, Zölibat, Krankheit usw. immer wieder zum Opfer, bei dem ein Nachfolger versucht, in einer falschen Identifikation das historische Ungleichgewicht wiederherzustellen. Dieser systemtheoretische Ansatz, wenn auch mit unreflektierten ahistorischen Heilskonzepten, wurde von deutschen „Intellektuellen“ äußerst polemisch angegangen. Ich denke nicht wegen der religiösen Konzepte - denn die Kritiker sind es ja wie im Falle des Spiegels selber – sondern wegen der Erschütterung eines bürgerlichen Individualismuskonzepts. So etwa Hilgers, Adlerschüler und als Forensiker Spezialist für sozialen Ausschluss, der natürlich, weil sein Vorgehen das der projektiven Beschuldigung und nicht von Einleiten von Verständigungsprozessen ist, das bürgerliche Individuum in Frage gestellt sieht, das sich zuerst schuldig und so „verantwortlich“ fühlen soll (FR vom 26.06.01).



Zusammenfassend
Die biblische Gesellschaft ist eine Tauschgesellschaft. Jesus versucht teilweise die vollzogene Individualisierung zu revidieren in Richtung auf eine Vortauschgesellschaft, die das Menschenopfer verlangt und die soziale und religiöse Bindungen betont. Das Mittelalter hat das im Märtyrerkult und im Feudalsystem teilweise nachvollzogen. Aber im Laufe der Stadtbildung und Arbeitsteilung setzt sich die Tauschgesellschaft wieder durch. Luther trägt dem mit seiner Religion des Gewissens Rechnung. Er ermöglicht damit den modernen Individualismus, das Tauschsystem, das dann im Kapitalismus total wird.
Insgesamt kann im man Christentum nicht die Wurzel der modernen Individualisierung sehen, eher in der jüdischen Religion, die freilich auch nur die materiellen Voraussetzungen der Städtebildung und Arbeitsteilung religiös nachvollzieht.

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