30.7.07

MARX


Auf einer Durchreise durch Trier lasse ich mich am Marxhaus fotografieren. Mir kommen dabei Bedenken. Zwar habe ich 69 – 73 mit Eifer „Kapital“ studiert, mir die Weltsicht durch die Wertformanalyse des ersten Kapitels revolutionieren lassen, mich bis zu den Zusammenbruchsdiskussionen von Luxemburg, Grossmann, Lenin, Mattick durchgeschlagen, doch mit dem politischen Marx habe ich meine Probleme. Wenn ich mir Trier ansehe, fühle ich mich bestätigt. Der junge Marx wächst in dieser von Industrie und Proletariat unbeleckten Kleinstadt auf, als konvertierter Protestant in katholischem Milieu, d.h. als preußische Elite. Orientiert sich wohl durch die Geschichte des Ortes an die Bewegungen der Politik und Macht. Da sind die Soldatenkaiser der Römer, die französische Revolution, die Trier kassiert, das preußische Reich mit seinen linksrheinischen Gebieten. Das Haus der Marxens in bester Lage nahe bei der Porta Nigra. Der Vater ein Justizrat, die künftige Frau eine Adlige. Und später in Bonn, Berlin, Jena usw. eine Abfolge von Ideendiskussionen ohne proletarische Erfahrung. Stattdessen dieser Hang zum Doktrinären, natürlich unterbaut mit einer kategorialen Kraft, die das Denken revolutioniert, in Bann schlägt. Aber die Arbeiterbewegung zur Frage der Wahrheit zu machen, der Philosophie, der doktrinären Diskussion, der Intelligenz, das hat sie falsch politisiert und ihrer Basis entfremdet, bis hin zum Staatssozialismus, einer konsequenten Folge von Verbrechen.
Die Schiene ist angelegt mit „Diktatur des Proletariats“, der Gewalt als Geburtshelferin der Revolution, der Vagheit der Begriffe, etwa der von einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.
Was fehlt? Eine Verwurzelung in der arbeitenden Klasse, ein Gefühl für ihre Lage, ihr Denken, ihre inneren Widersprüche, ihre Bedürfnisse, Ängste, Orientierungen. Stattdessen das Denken eines moralisierenden Pfaffen und Richters, nicht weit weg vom Henker. Der moralischen und rationalen Weltsicht fehlt die subjektive Seite, die nach Überleben verlangt, faulen Kompromissen, gebunden ist an Herkunft und Tradition, Angehörigen, sozialen Bedürfnissen, - kollektiv-mystisch statt individuell-rational denkt, diese dubiose Innerlichkeit und vieles mehr, was die Bewegung auf etwas Besseres genauso schwierig wie sinnvoll macht. Man muss diesen „Sumpf“ nicht vorbehaltlos akzeptieren, aber kennen und begreifen und in Bewegung bringen.
Schaut man sich Trier heute an, bleibt von der Geschichte der proletarischen Revolution nur noch ein gigantischer Warenstrom, an den die Menschen um jeden Preis angeschlossen werden wollen, so öde und kanalisiert wie die Mosel, aufgeputzt von Boutiquen, hübschen historischen Relikten - Mittelschichtskacke. Eine Gruppe von Chinesen mit Einkaufstüten von Kaufhof zieht an den Kaiserthermen vorbei.

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