31.7.07

Ponto vor 30 Jahren

Gestern wieder mal Erinnerungstag. Ich muss aus dem schmierigen Geschreibe von Th. Schmidt zitieren: „Tragik …nüchtern, prinzipienfest und freiheitlich …ruhige Bürgerlichkeit…Selbstaufklärung…kollegial…unauffällig…klassischer Liberaler…Kant …(einer der) Architekten des besten deutschen Staats, den es je auf deutschem Boden gab.“
Da ist die Bürgerlichkeit der Neuen Linken auf ihren dümmsten Begriff bekommen, personifiziert mit postmodernem Zombiegesicht, Fett und Krawatte. Kein Bruch, keine Ambivalenz, widerspruchsfrei. Journalismus als Begleitschmiere für die Kapitalvermehrung, angelegt schon in der „Autonomie“.

Am Abend erschöpft ans TV. Eine 3sat-Diskussion von 4 deutschen Kulturrepräsentanten, die irgendwelche dummen Klischees über die 68er zusammensuchen. Ekelhaft.

Dann eine der voyeuristischen Schulddiskussionen im Hessischen Fernsehen mit Plottnitz, Astrid Proll, H.J.Klein. Ein paar wenige empirische Lichtblicke. Aber mit Moderatoren, die überheblich ohne jeden Einblick in die Ambivalenz der Sache moralisieren. Die Raf ein abgehaktes Verbrechen. Das Publikum schaut blöde drein und hat mit seinem Konsumniveau kein Problem, ganze Völker indifferent verrecken zu lassen.
Die Raf, primär eine konkurrierende Fraktion der bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer dramatisierenden Eitelkeit, hatte dagegen doch proletarische Züge: da waren die befreiten Erziehungsheime, die gewalttätige Wut, die jeder kennt, der an die Klassenfront gerät. Die von ihr verursachten Tode und Selbstmorde, haben nur die Erstarrtheit der Verhältnisse reproduziert, nicht neue Möglichkeiten geschaffen. Aber im Negativen haben sie vielleicht mehr Wahrheit als das Gesülze equilibrierter Persönlichkeiten.
Fett soll teurer werden. Wir da unten werden unsere Gürtel enger schnallen müssen. Es wird uns gut tun.

30.7.07

MARX


Auf einer Durchreise durch Trier lasse ich mich am Marxhaus fotografieren. Mir kommen dabei Bedenken. Zwar habe ich 69 – 73 mit Eifer „Kapital“ studiert, mir die Weltsicht durch die Wertformanalyse des ersten Kapitels revolutionieren lassen, mich bis zu den Zusammenbruchsdiskussionen von Luxemburg, Grossmann, Lenin, Mattick durchgeschlagen, doch mit dem politischen Marx habe ich meine Probleme. Wenn ich mir Trier ansehe, fühle ich mich bestätigt. Der junge Marx wächst in dieser von Industrie und Proletariat unbeleckten Kleinstadt auf, als konvertierter Protestant in katholischem Milieu, d.h. als preußische Elite. Orientiert sich wohl durch die Geschichte des Ortes an die Bewegungen der Politik und Macht. Da sind die Soldatenkaiser der Römer, die französische Revolution, die Trier kassiert, das preußische Reich mit seinen linksrheinischen Gebieten. Das Haus der Marxens in bester Lage nahe bei der Porta Nigra. Der Vater ein Justizrat, die künftige Frau eine Adlige. Und später in Bonn, Berlin, Jena usw. eine Abfolge von Ideendiskussionen ohne proletarische Erfahrung. Stattdessen dieser Hang zum Doktrinären, natürlich unterbaut mit einer kategorialen Kraft, die das Denken revolutioniert, in Bann schlägt. Aber die Arbeiterbewegung zur Frage der Wahrheit zu machen, der Philosophie, der doktrinären Diskussion, der Intelligenz, das hat sie falsch politisiert und ihrer Basis entfremdet, bis hin zum Staatssozialismus, einer konsequenten Folge von Verbrechen.
Die Schiene ist angelegt mit „Diktatur des Proletariats“, der Gewalt als Geburtshelferin der Revolution, der Vagheit der Begriffe, etwa der von einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“.
Was fehlt? Eine Verwurzelung in der arbeitenden Klasse, ein Gefühl für ihre Lage, ihr Denken, ihre inneren Widersprüche, ihre Bedürfnisse, Ängste, Orientierungen. Stattdessen das Denken eines moralisierenden Pfaffen und Richters, nicht weit weg vom Henker. Der moralischen und rationalen Weltsicht fehlt die subjektive Seite, die nach Überleben verlangt, faulen Kompromissen, gebunden ist an Herkunft und Tradition, Angehörigen, sozialen Bedürfnissen, - kollektiv-mystisch statt individuell-rational denkt, diese dubiose Innerlichkeit und vieles mehr, was die Bewegung auf etwas Besseres genauso schwierig wie sinnvoll macht. Man muss diesen „Sumpf“ nicht vorbehaltlos akzeptieren, aber kennen und begreifen und in Bewegung bringen.
Schaut man sich Trier heute an, bleibt von der Geschichte der proletarischen Revolution nur noch ein gigantischer Warenstrom, an den die Menschen um jeden Preis angeschlossen werden wollen, so öde und kanalisiert wie die Mosel, aufgeputzt von Boutiquen, hübschen historischen Relikten - Mittelschichtskacke. Eine Gruppe von Chinesen mit Einkaufstüten von Kaufhof zieht an den Kaiserthermen vorbei.

22.7.07

TEILZEITBESCHÄFTIGTE VERDIENEN DEUTLICH WENIGER

"Der durchschnittliche Bruttostundenverdienst Teilzeitbeschäftigter im Produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich lag im ersten Vierteljahr 2007 mit 13,92 Euro deutlich unter dem der Vollzeitbeschäftigten mit 18,67 Euro."Quelle: Statistisches Bundesamt

Mein Stundenlohn mit allen Zulagen (Urlaub, Weihnachten, Schmutz) 11,95 €.
Im Reinigungsdienst meiner Firma werden nur Halbzeitkräfte eingestellt.
Wenn ich nach meiner „Halbzeit“ nach Hause komme, bin ich geschafft. Eine Vollzeit kann man nur durchhalten, wenn man der Arbeit systematisch aus dem Weg geht.
Der Bruttodurchschnitt abhängig Beschäftigter liegt bei 3 148 €. Ich komme – also anstrengende Arbeit bei Hitze und Schmutz – auf Brutto ca. 1 000 €.
Danke für diese Information.
Das Geld, das ich bekomme, reicht. Es geht darum, dass das der Besserverdienenden gekürzt wird. Ein menschlicher Sozialismus ist nur als ein materiell bescheidener, aber kulturell reicher denkbar.
So 73 hat eine (Mittelschicht-)Linke gemeint, Sozialismus wäre, wenn es allen so ginge, wie etwa ihrer Schicht. Ich fand das - aus bescheidenen Verhältnissen kommend - schon merkwürdig. Was der Mensch braucht, ist doch nicht dieser Konsumshit, sondern: Natur, Musik, historische Erfahrung, Literatur, Philosophie, Verständnis für sich und andere, sich Einlassen auf andere Menschen und die Grenzen seiner Existenz.

CHRISTENTUM UND INDIVIDUALISIERUNG

Die Rolle des Christentums und des Opfers in der Geschichte der Individualisierung
War Jesus ein Individualisierer?

Ist nicht die Vorstellung eines einzigen Gottes, der Monotheismus, das Vorbild und die Grundlage für die Idee des modernen Individuums?
Schaut man sich die Geschichte der letzten 2000 Jahre an, könnte man auf die Idee kommen, dass die heute ins Extrem gesteigerte Individualisierung – Symptome wären zu benennen – ihren Anfang nahm im Gebet des Individuums zu Gott. Und ist doch die Bibel voll mit nonkonformen Individuen, den Propheten, die aus der Reihe tanzen, das Volk anklagen, ihm nicht nach dem Munde reden, es vielmehr zur Bekehrung, zur Wende, zur Reue auffordern.
Der moderne Individualismus stellt sich dar als die immer größer werdende Entscheidungsfreiheit des Einzelnen gegenüber einem Kollektiv: Konsumfreiheit, Glaubensfreiheit, Berufsfreiheit, Vertragsfreiheit. Seine gesellschaftliche Bindung und Verpflichtung reduziert sich auf die Einhaltung staatlicher Gebote und Verbote, auf die Einhaltung zivilrechtlicher Verträge. Während auf der einen Seite die Freiheit des Individuums wächst, vermehrt sich gesellschaftlich gesehen aber auch seine Ohnmacht. Die Gesellschaft desintegriert sich in Schichten, Gruppen – Pluralismus verschiedener Werte. Paradoxerweise wird von Individualisierung gesprochen in einer Zeit, in der immer mehr alle mit allen verbunden sind und die gesellschaftliche Integration in den Arbeitsprozessen immer höher organisiert ist.

Denkt man weiter darüber nach, wie es zu dieser Individualisierung gekommen ist, wird man zur Ursprungsgeschichte der Individualisierung gelenkt, dem Verzicht des biblischen Gottes auf das Menschenopfer bei Abraham und Isaak. Ich halte das für den entscheidenden Bruch. Die Menschheit hat sich damit freilich ein Doppeltes eingehandelt: einerseits die Garantie auf körperliche Unversehrtheit des Individuums, das nun sich selber frei zur Verfügung steht und nicht mehr nur Gottes Eigentum ist, andererseits die Ablösung der physisch-körperlichen Gottesbindung durch Opfergaben; der Widder tritt an die Stelle Isaaks. Das ist nichts anders als die Einführung des Tauschverkehrs in das religiöse Verhältnis. Individuum und Geld, Individuum und Privateigentum gehören zusammen. (Noch hat es nicht die Form von Kapital und Mehrarbeit angenommen). Ein Individuum existiert erst mit seiner Freiheit, dem Eigentum an sich selber. Dazu braucht es aber des gesellschaftlichen Besitzverhältnisses an Dingen. Die jüdische Religion inszeniert mit Gott ein Tauschverhältnis, das zwanghaft an bestimmte Rituale und Opfergaben gebunden ist. Ebenso die römische Religion und Staatsideologie des „Do ut des“ – geben, um zu bekommen -, die von Ritualien oft so oft Wiederholungen verlangte, bis sie endlich fehlerfrei vollzogen waren und so die Gunst der Götter erwarten ließen.
Welche Rolle spielt da nun Jesus, der sich ja wieder physisch-körperlich opfert? Es gibt zahllose theologische Spitzfindigkeiten, um diesem scheinbaren Unsinn einen Sinn zu geben. Sie interessieren mich hier nicht.
Ich rekurriere stattdessen auf Marx, der sagt, dass die entfremdeten gesellschaftlichen Beziehungen der Menschen ihnen nun in der Warengesellschaft vermittels der Ware - bzw. der allgemeinen Ware Geld - erscheinen als Beziehungen zwischen Dingen (Ware = Geld = Ware = Arbeitskraft = Lohn usw.). Für Marx ist das eine Wirklichkeitsverfälschung, die in sich das dialektische Gesetz hat, dass immer wieder die ursprünglichen menschlichen Beziehungsverhältnisse daraus hervorbrechen, wenn auch verzerrt etwa als Klassendiktatur, Fabrikfaschismus. Aber auch schon immer jenseits der Tauschverhältnisse als Liebe zwischen Menschen und eben auf einer allgemeinen Ebene der Religion – sei diese falsch oder nicht. Das heißt der Individualismus, der in sich eine entfremdete verdinglichte Erscheinungsform von Beziehungen ist, hat die Tendenz, immer wieder zu zerbrechen und sich in Beziehungsverhältnisse anderer Art jenseits der Tausch- und Eigentums- und Identitätsverhältnisse zurückzubilden. Neutraler wäre der Ausdruck: „sich wegzuentwickeln“.
Das ist der Fall bei Jesus. Er verlangt bedingungslosen Gehorsam für einen Gott (der nur noch durch Schriften präsent ist). Er will diesen Makel des Menschen, seine „Bedingtheit“ (im Eigentum) und Begrenztheit (individuelle Sterblichkeit) wieder zu Gunsten einer großen Familie („werdet wie die Kinder“, „Gotteskinder“) im ewigen Leben auflösen. Dafür muss er aber – um sich zum Eigentum und Sklaven Gottes zu machen (Paulus, Römer 6) – diesen Pakt Gottes mit Abraham wieder rückgängig machen. Also die Tauschverhältnisse, wie sie im Opfer von Tieren etc. enthalten sind, werden wieder auf das Menschenopfer, Sklavenverhältnisse und familiäre Verhältnisse zurückgeführt. Es geht nicht darum, das zu denunzieren. Es waren die Beziehungen, die Zugehörigkeit oder Verbundenheit ermöglichten. Sucht man den Kern der Lehre von Jesus, so ist es die Erzeugung menschlicher Zugehörigkeit. Die „Bindung“ oder „Zugehörigkeit“ ist aber da, wo sie nicht begreiflich erfolgt, immer das Einfallstor für den Autoritarismus.
In der christlichen Theologie kommt es zu dem Paradox, dass sich Jesus einerseits als (letztes) menschliches Opfer darstellt, die Individualisierung also revidiert, andererseits die individuelle Schuldkonstruktion verschärft mit einer Menge nicht einhaltbarer Gebote (Nächstenliebe, Armut usw.) Er stirbt für uns und erwirkt sich damit das Recht, neue Schuldforderungen – Glaube! – zu erheben. Einerseits ist Jesus in seinen Forderungen ein „Sozialist“ oder „Kommunist“ ist (Eigentum, Armut, Gehorsam etc.), andererseits führt er aber durch sein Menschenopfer wieder ein archaisches Gehorsamsverhältnis ein, das vor der Tausch- und Eigentumsgesellschaft existiert hat. Deswegen ist die Anerkennung der Sklaverei durch Paulus keine Verirrung, sondern ein religiöses Prinzip. Damit gequält haben sich die christlichen Sozialtheoretiker, etwa Augustinus, weil sie es nicht geschafft haben, diese archaischen Verhältnisse in der sozialen Wirklichkeit der Tauschgesellschaft herzustellen, die über eine mystische oder fantasierte Union im Sakrament hinausgehen. Daran leiden auch die gut gemeinten Vorschläge des Katholiken
Hengsbach heute. (Er sieht nicht die Dialektik von Wertform und Moral).
Wenn die Kirche die Familie als Ideal, Kernzelle usw. propagiert, hat das viel mit ihrem regressiven Hang, aber wenig mit dem Konzept des Jesus zu tun (Matthäus 19,29). Anders steht es um geschwisterliche Beziehungen innerhalb der Gemeinde. Dass Jesus die Familie derart manifest ablehnt, hängt wohl damit zusammen, dass die Familie im Gegensatz zu einer universellen Gesellschaft steht, zu Abgrenzung und Rückzug, zu Privateigentum neigt.

Eigentlich bietet das im Neuen Testament überlieferte Christentum verschiedene Varianten an: die streng tauschorientierte jüdische Auslegung, die sich um die penible Einhaltung von Ritualien und Gesetzen dreht, und die andere, am Geist der Gebote orientierte Auslegung der Gesetze, orientiert an den Schätzen im Himmelreich. Diese Schätze im Himmelreich sind aber nicht durch Tausch an sich erwerbbar. Das Prinzip, mit dem man sie erwirbt ist undurchsichtig – Sache Gottes. Mal gibt es Tauschäquivalenz (gute Taten - guter Lohn - schlechte Taten - Hölle), mal nicht (alle Arbeiter bekommen den gleichen Lohn). Ursache für diesen Wirrwarr, an dem die Kirche noch ewig zu rätseln hat, ist der Versuch von Jesus die Tauschverhältnisse religiös zu revidieren. Da aber Gott mit einer Logik der Gerechtigkeit verbunden sein muss und das Denken der Tauschgesellschaft schon bestimmend ist, sind mal die guten Taten für das himmlische Weiterkommen, mal die geschenkte Gnade Gottes entscheidend. So wie es Jesus bedeutungsvoll sagt bei Matthäus 19,26: „Für Gott ist alles möglich“. An diesem Widerspruch hängen bleibend werden sich später Theologen und Völker die Köpfe einschlagen; denn für sie ist das unmöglich.


Welche Rolle spielt Luther, selber Sohn eines Bergwerkbesitzers, in diesem Dualismus von archaischer und Tauschgesellschaft? Es heißt ja über ihn:
Er verlagert die Entscheidung, was als göttlich gewollt angesehen werden könne, von der Amtskirche auf das Individuum und gesteht damit dem Menschen volle Glaubensfreiheit und daraus folgend auch Entscheidungsfreiheit zu.
Auf diesem Grundgedanken basiert insbesondere auch die Aufklärung.

Luther trennt zwischen Leib und Seele. Die Seele ist frei, wenn sie an Jesus glaubt – von Luther vage definiert – und durch den Glauben erlöst. Der Leib, das ist eine andere Sache. Er braucht nicht die Werke, das Fasten, die Riten. Sinnvoll mag das nur sein wenn es einer gläubigen Seele entspringt.
Also Luther schafft durch diese Trennung zwei voneinander unabhängige Bereiche. Am Ende interessiert er sich aber nur für die Seele: das Evangelium, das Beten, der Ausschluss der Ungläubigen. Der Glaube wird entmaterialisiert. Gleichzeitig wird der materielle gesellschaftliche Bereich autonom – das ist die Sphäre der Gesellschaft, der Tauschverhältnisse, der Politik usw. Das ist die Basis des nun von religiösen Verpflichtungen befreiten Menschen. Hier stellt sich nicht mehr die Frage von Arm und Reich, von gesellschaftlicher Ordnung, von sozialer Verantwortung. Nicht dass sich Luther da nicht eingemischt hätte, aber es ist ein sekundäres nicht mit der Religion direkt verbundenes Problem.
Die Konzeption der Gnade durch Luther lässt sich nicht einfach in eine Legitimation des nun im Warentausch „freien“ Bürgertums ummünzen, genauso wenig wie für eine Begründung feudaler Macht (etwa bei der Abschlachtung der Bauern). Vielmehr wird von ihm hier wieder eine Utopie erneuert, mit der einmal das Paradies beschrieben wurde. Dort war Arbeit Adam eine Art von Unterhaltung gegen die paradiesische Langeweile. “
Damit er nicht müßig ging, gab Gott ihnen etwas zu schaffen“. In diesen Zustand soll den sündigen Menschen die Gnade zurückversetzen, ihm das Gefühl gegeben, einfach zu sein dürfen, unabhängig von Erfolgen und nach allen Niederlagen. (So etwa Steffensky). Hier wird aus der sozialen Utopie noch eines Augustinus, die maßgeblich für die feudale Gesellschaft des Mittelalters war, eine individuelle und religiöse. Wie überhaupt heute religiös und individuell für uns heute zusammenfällt. Das Konzept der Schuld, Sünde, Glauben usw. ist keines einer gesellschaftlichen Verfassung oder Beziehungsstrukturen, sondern eines von Individuen.

Aber macht nicht die Gnade das Opfer sinnlos oder überflüssig? Weswegen sollte ein barmherziger Gott das Opfer von Jesus nötig haben? Was ist das für eine Barmherzigkeit? Ich weiß nicht, wie Luther das sieht. Mir scheint, er hat das Opferverhalten von Jesus nicht wirklich verstanden. Es war kein Tauschgeschäft, das ab jetzt Gnade und Barmherzigkeit möglich macht. (Jesus ist ein Feind der Händler, er vertreibt sie aus dem Tempel.)
Noch andere Fragen dazu:
Hat Jesus sich selbst als das Opfer verstanden, als das es dann die Evangelisten und Nachfolger interpretiert haben oder ist er eher ohne bewusst zu Wollen in die Mühle der Justiz geraten?
Welche Art von Zugehörigkeit, Community oder Gemeinde wollte Jesus begründen?
Das Wort ist Fleisch geworden, heißt es, aber welches Wort? Ist es nicht ein Problem des Christentums, dass das bisschen Fleisch das es geworden ist, sehr schnell wieder gestorben ist, um – paulinisch – als „Geist“ wieder aufzuerstehen?
Ist nicht die Entmaterialisierung des christlichen Lebens, die Luther an Paulus, Augustinus, die Griechen, die Gnosis, die Manichäer anknüpfend, eben die Verhinderung der Fleischwerdung des Wortes?
Könnte man nicht eher sagen: das Wort, also den Begriff, den die Menschen über ihre wahren sozialen Verhältnisse und Gemeinde haben, ist Geld geworden – „dem Kaiser, was des Kaisers ist“.
Ist Gemeinde, Gesellschaft, Gemeinschaft religiös derart „entmaterialisiert“, wird Zugehörigkeit zu einer Gemeinde reduziert auf Partizipieren an Symbolen und Ritualen. Es fehlt ihnen Fleisch und Blut und reduziert sich auf Hostie und Messwein. Das wirkliche Leben wird auf das Negative und Böse projiziert. Die Gemeinde wird durch Autorität und Ressentiments gegen die Außenstehenden, die Juden und Heiden, zusammengehalten. Es ist negative Gemeinde.
Diesen Mangel soll die christliche Caritas überbrücken. Dabei verhält es sich bei ihr wohl wie mit der christlichen Hospiz - von Illich so beschrieben: In dem Maße, wie in Europa Hospize aufgebaut wurden, nahm die gewöhnliche Gastfreundschaft ab.

Andere Frage: Wie verhält sich der individuelle Tod zum Opfer? Über kurz oder lang fordert ja Gott - christlich von jedem das Opfer. Das Leben bis dahin ist nur ein Geschenk, eine Gnade. Die Gnade ist die Zivilisierung des religiösen Verhältnisses, eine Art Waffenstillstand bis zum Tode. Dann nimmt Gott wieder, was er gegeben hat. Gott hat’s gegeben, Gott hat’s genommen. Auch der Dankbarkeitskult der Christen baut auf diesem göttlichen Eigentumsverhältnis auf, das immer zugleich ein Opferverhältnis ist. (Der Dankbarkeitskult, der en passant die gesellschaftlichen Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse weglügt: Kein Gedanke beim frommen Tischgebet an den Arbeiter, der dieses tägliche Brot erschunden hat.)

Den Rekurs des Christentums auf die Vortauschgesellschaft zeigt das Sakrament der Kommunion, im Grunde ein kannibalischer Akt des Verzehrs von Fleisch und Blut eines Menschen. Uns mag die kannibalische Welt grausam erscheinen, der Rekurs darauf pervers, aber die Riten haben innerhalb deren Welt nicht diese grausame und perverse Bedeutung. In dem Sakrament der Kommunion wird aus den Individuen eine Gemeinde: ein Leib (Römer 12,5), wie in der „unio mystica“, der mystischen Verschmelzung des Individuums mit Gott.


Um das Denken vor der Tauschgesellschaft zu verdeutlichen möchte ich noch auf das Töten von Tieren und die Beziehung zum Opfern eingehen. In der der Tauschgesellschaft vorausgehenden Jägergesellschaft, in der wohl Kannibalismus und Menschenopfer Brauch waren, ist dieses Menschenopfer keine Bestialität usw., sondern eine Art von Ausgleich mit dem umgebenden Universum. Die Menschen töten die Tiere und müssen sich deswegen selber opfern. Das Opfer stellt die Ordnung wieder her.
Heute, wo man gedankenlos Tiere tötet und frisst, ist dieser Ausgleichsgedanke verloren gegangen und alles wird getan, um sich ein sauberes Image zu erhalten: die gefliesten Schlachthöfe, der Horror vor realem Blut überspielt. Die Fleischerhaken in Plötzensee, Auschwitz hat sich an diesen Schlachthöfen orientiert. Der Menschen beginnt so über sich zu denken, wie er über die Tiere denkt. Dagegen kämpfen Menschen verzweifelt und bewusstlos um jeden Lebenstag. Der Tod, der in der Weltsicht der vorindividuellen und vortauschbezogenen Gesellschaft noch ein Element eines kosmischen Kreislaufs war – so nehme ich an! – verliert vollends seinen Sinn, ist nur noch ein Ende und nicht mehr Beginn für etwas Neues. Wir würden unseren Tod anders sehen, wären wir uns der Tatsache bewusst, dass die Tiere für uns sterben, dass wir ihr Leben verzehren, um unseres zu haben, vielleicht hätte der Tod für uns Menschen eine andere Bedeutung, würden wir uns unseren „Opfern“, den Tieren „angleichen“. Unser Bewusstsein von Leben und Tod würde sich verändern. „Opfern“ wäre dann ein Übergang von einem Zustand in einen anderen. Wir können das freilich nicht mehr so denken wie die Sammler und Jäger. Für sie hatten die Dinge der Welt einen anderen Charakter als für uns. Man denke an das magische Denken, an das Besetztsein der Natur mit Geistern. Dinge, die sich dadurch in andere verwandelten, Ausdruck und Symbole eines Anderen waren, anderer belebter Wesen. Dagegen beschreibt die Naturwissenschaft heute die Dinge als unserem Seelenleben fremde Elemente, Der Begriff der „Verdinglichung“ beschreibt diesen Übergang aus einer belebten in die tote physikalische Welt von heute.
Wir können diese Verdinglichung nicht mehr rückgängig machen, uns nicht einreden, hinter den Dingen wären irgendwelche Geister. Und doch sind in uns die Stimmen geblieben, die nun nicht mehr aus dem Dornbusch sprechen, die Gefühle, die Trauer über die verloren gegangenen Beziehungen, die Wünsche, die noch leben, die Hoffnungen. Das Lebendige ist zum „Innenleben“ geworden, das sich hin und wieder in den Verbindungen der Menschen realisiert.

Die Individualisierung, die Luther erneuert und für die Moderne in ein Evangelium gefasst hat, ist nicht mehr als eine symbolische. Sie abstrahiert von den tatsächlichen sozialen Zusammenhängen, in denen das Individuum steht, sie abstrahiert auch von seiner sozialen Bedürftigkeit, seinen sozialen Antrieben, von Eros und Aggression. Diesen Bereich macht sie von Religion frei und damit von moralischem Verhalten und gesellschaftlichem Diskurs. Das bedeutet auch, dass jenseits von Caritas kein sozialer Diskurs mehr bindend geführt werden muss. Es ist Privatsache. Und es ist so kein Wunder, wie die protestantische Kirche in die Verbrechen der letzten Jahrhunderte hineingestolpert ist.

In einem anderen Zusammenhang will ich noch einmal auf die Rolle des Opferns im heutigen menschlichen Leben hinweisen. Es sind die umstrittenen Theorien von Hellinger. Seine Kritiker subsumieren die Erfahrungen in den Familienaufstellungen auf inszeniertes Theater. Wenn es so ist oder wäre, dann lässt sich fragen, woher die Überzeugungskraft der durch Familienaufstellungen hervorgerufenen Gefühle herrührt : Offensichtlich gibt es ein Reservoir solcher intensiven Gefühle in uns und sie sind nicht nur in diesen „Inszenierungen“ aktiv, sondern auch im täglichen Leben im Hintergrund bestimmend.
In unserem Gefühlsleben spielt die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft eine große Rolle – sei es Familie, Nation usw. – und das Gesetz, dass dort Gerechtigkeit und ein Ausgleich herrsche. (Begriffe, die Hellinger bekämpfen muss, weil er neoliberal statt dialektisch denkt, um seiner eigenen Theorie zu entrinnen). Hier kommt es im Selbstmord, im Verzicht, Zölibat, Krankheit usw. immer wieder zum Opfer, bei dem ein Nachfolger versucht, in einer falschen Identifikation das historische Ungleichgewicht wiederherzustellen. Dieser systemtheoretische Ansatz, wenn auch mit unreflektierten ahistorischen Heilskonzepten, wurde von deutschen „Intellektuellen“ äußerst polemisch angegangen. Ich denke nicht wegen der religiösen Konzepte - denn die Kritiker sind es ja wie im Falle des Spiegels selber – sondern wegen der Erschütterung eines bürgerlichen Individualismuskonzepts. So etwa Hilgers, Adlerschüler und als Forensiker Spezialist für sozialen Ausschluss, der natürlich, weil sein Vorgehen das der projektiven Beschuldigung und nicht von Einleiten von Verständigungsprozessen ist, das bürgerliche Individuum in Frage gestellt sieht, das sich zuerst schuldig und so „verantwortlich“ fühlen soll (FR vom 26.06.01).



Zusammenfassend
Die biblische Gesellschaft ist eine Tauschgesellschaft. Jesus versucht teilweise die vollzogene Individualisierung zu revidieren in Richtung auf eine Vortauschgesellschaft, die das Menschenopfer verlangt und die soziale und religiöse Bindungen betont. Das Mittelalter hat das im Märtyrerkult und im Feudalsystem teilweise nachvollzogen. Aber im Laufe der Stadtbildung und Arbeitsteilung setzt sich die Tauschgesellschaft wieder durch. Luther trägt dem mit seiner Religion des Gewissens Rechnung. Er ermöglicht damit den modernen Individualismus, das Tauschsystem, das dann im Kapitalismus total wird.
Insgesamt kann im man Christentum nicht die Wurzel der modernen Individualisierung sehen, eher in der jüdischen Religion, die freilich auch nur die materiellen Voraussetzungen der Städtebildung und Arbeitsteilung religiös nachvollzieht.

21.7.07

„WIR DA UNTEN - DIE DA OBEN“

Sprechen auf dem Niveau von „Wir da unten – die da oben“ bewegen sich auf dem Niveau einer Abgrenzung, die nicht vorhat, diese Abgrenzung wirklich in Frage zu stellen. Neben einer resignativen Haltung ist zugleich ein Ressentiment, das die Verantwortlichkeit letztlich an „die da oben“ abgibt. Das Forderungsverhältnis, das damit begründet wird, führt zu Inaktivität und Passivität.
Vergleichbar den Afrikanern, die nach x Jahren Selbständigkeit immer noch im Bettelstatus leben, auf ihr historische Opfer verweisen, endlos Entschädigung verlangen, statt sich endlich selbständig zu machen.
Arm und reich ist keine moralische Frage. Es ist zu begreifen, dass die Armen die Reichen schaffen.
JESUS UND DER REICHE JÜNGLING
Die Geschichte in Matthäus 19,23ff hat mich damals als Junge immer seltsam berührt. „Verkaufe alles, was Du hast und schenke es den Armen.“ Der Jüngling geht traurig weg, „denn er hatte ein großes Vermögen“.
Heute weiß ich, warum mich das so denken gemacht hat. Ich habe mit dem Jüngling sympathisiert. Ist es nicht eine lebens- und menschenfeindliche Forderung dieses Sektierers Jesus?
Jesus setzt immer wieder auf eine radikale Lebensverneinung: Sammelt Schätze im Himmel, Mein Reich ist nicht von dieser Welt. Im Zentrum des Christentums steht der Tod. Er ist die Erlösung.
Wenn die Pfarrer ihre Botschaft schmackhaft machen wollen, dann verweisen sie auf die Akte der Lebensfreude in der Bibel: die Hochzeit von Kanaan, die zahllosen Heilungen, das Abendmahl, die Haarbehandlung durch Magdalena und dergleichen mehr. Es erscheint mir aber als taktische Anpassung an die Geschmäcker des Publikums.
Bestenfalls lässt sich die christliche Botschaft als unbegriffen paradoxe interpretieren: Man mag das andere, das ewige Leben im Jenseits, und will das andere, das Leben hier und jetzt, doch nicht lassen. Wobei es allerdings ein menschliches Bedürfnis und auch ein Recht ist, beides haben zu wollen.
Die Kirche übrigens hat das Sektiererische an der Forderung von Jesus erkannt und sich im Großen und Ganzen gedanken- und skrupellos im Bündnis mit christlicher Partei und Kultur auf das Privateigentum der wohltätigen Eliten geeinigt.
Die Apostel erschrecken über den Radikalismus von Jesus, fragen: Wer kann dann noch gerettet werden? Merkwürdige Antwort: Für Menschen ist das unmöglich, bei Gott ist alles möglich. – Merkwürdige Logik: die Armutsforderung ist „menschlich“, aber für Gott muss das keine Rolle spielen. Da wird das, was ich Sektierertum genannt habe, wieder zurückgenommen.

Für uns, Angehörige eines Sechs- oder Achtmilliardenvolks, stellt sich die Frage nach Reichtum und Armut anders: wie müssen wir uns organisieren, dass jeder zu seinem Leben kommt, ohne das anderer einzuschränken? Bezogen auf den heutigen Stand ist aber ein Weiterleben im Luxus von heute nicht möglich. Nur „arm“ leben, macht Zukunft möglich. Etwa Reduktion der Verschmutzungsrechte auf 2 to CO2.

Die christliche Wohlfahrt lässt unter den Bedingungen asozialer Strukturen das Überleben einer Idee von Mitmenschlichkeit zu, solange sie klar macht, dass die allgemeine Lösung nur die demokratische Übernahme der Produktionsmittel ist. Andernfalls ist die „Nächstenliebe“ nur das soziale Anhängsel von Profitstrukturen.

Für uns Nichtchristen ohne die Aussicht auf eine fundamentale Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse bleibt nur übrig, im eigenverantwortlichen Bereich das Bestmögliche zu machen, auf die gesellschaftliche Absurdität des Ganzen hinzuweisen, die Bedingungen einer notwendigen Veränderungen zu analysieren.

19.7.07

EINEN URLAUBSTAG FÜR EINEN ARZTTERMIN

Seit März habe ich Schmerzen im Bewegungsapparat, hat nichts direkt mit der Arbeit zu tun. Weil ich motorische und sensorische Ausfälle habe, gehe ich zum Arzt. Natürlich in meiner freien Zeit. Der Arzt will eine CT, bzw. MRT. Der Terminkalender der Radiologie ist voll und in den nächsten 4 Wochen bekomme ich einen Termin, aber 10 Minuten vor meinem Arbeitsbeginn.
Ich weiß, wie problematisch für Teilzeitarbeiter Arzttermine sind – sie sollen sie grundsätzlich in der freien Zeit nehmen – und frage den Chef, ob ich eine AU Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung brauche. Seine Antwort: Ich solle doch Urlaub nehmen. – Natürlich lehne ich ab. Ich werde mich also um eine Bescheinigung bemühen.
Ich wundere mich. Es ist mein erster Arzttermin seit 8 Jahren. Ich war nie krank, habe Nachtschichten mit Schmerzen, Übelkeit und Kotzen verbracht. Jetzt soll ich wegen vielleicht einer Stunde Urlaub nehmen?
Was hat er davon? Es ist klar unvernünftig. Aber er hat das, was die Amerikaner eine „attitude“ nennen, eine negative arbeiterfeindliche Einstellung.
Die Gesellschaft ist durchzogen von solchen Feind- und Abgrenzungslinien. Bereitschaft, zuzuschlagen, besteht bei allen. Aber die Herrschenden sitzen am längeren Hebel. Den Ohnmächtigen bleibt nur die Gewalt. Und damit sind sie schon verloren.
Der Chef ist übrigens praktizierender Katholik. Im Müll habe ich eine Menge von Kopien für Taufrituale gefunden. Wahrscheinlich braucht er das für die Definition von Gut und Böse in seinem Weltbild.

Was Nettes nebenbei: Eine deutsche Zeitung, die
taz, schreibt über eine Fließbandarbeiterin. Es geht um die Rente mit 67. Wie eben alles so verschieden ist. Und aus der Sicht eines Landessozialpfarrers bei der Niedersächsischen Landeskirche. Wie der die Probleme anderer Menschen sieht und darüber Gutachten schreibt. Was die Arbeiterin sagt, wird zur Wirklichkeit durch den Mund des Pfarrers. Wie heißt es? „Herr, sprich nur ein Wort aus Deinem Mund und meine Seele wird gesund.“

12.7.07

ENDE EINER "WORKING POOR"


Ich habe am 29.04.07 über eine Frau geschrieben, eine "working poor", von deren Geld sich Sohn und Exmann bedient haben. Vor ca. 2 Wochen kommt sie – 52 Jahre alt und starke Raucherin – mit einer Lungenentzündung in die Intensivstation, wird dort wieder entlassen und stirbt nach wenigen Tagen.
Jetzt soll sie verbrannt werden. Bei der Aussegnung sind dabei: Sohn, Exmann, seine Mutter, ihre Finanzbetreuerin, die die „Feier“ organisiert hat, und jemand von ihrem Arbeitsplatz. Bis auf die letzten beiden keine Blumen. Die Finanzbetreuerin hat einen Pfarrer organisiert, der sie aber nie gesehen hat. Ein paar Worte, ein Vaterunser. Ihre Schwester fehlt. Der Chef der Firma, ihre Betreuerin und ihre Sozialarbeiterin haben auch keine Zeit, obwohl sie ihr Geld mit solchen Menschen verdienen. Und das nicht schlecht. Sie werden aber Zeit haben, ihre Akte zu füllen.

Sterben ist Privatsache. In der verfassten Gesellschaft hat der Tod der Bürger, abgesehen von dem ihrer höchsten Repräsentanten, keinen Platz. Es ist desorganisierte Verantwortungslosigkeit und Gleichgültigkeit. Statt von den Toten panisch wegzurennen, würde es einer verantwortlichen Gesellschaft anstehen, an ihr eigenes Schicksal zu denken.



DER CHEF FEIERT GEBURTSTAG
Der Chef lädt zu einer Geburtstagsfeier ein, als hätte er geahnt, was für ein Geschenk er bekommt. Aber zu einer Zeit, bei der ich nicht da bin. Wunderbar, ein Problem weniger für mich.
Der Vorarbeiter spricht mich an. Ob ich es schon mitbekommen hätte. – Ja, ja. –Er will etwas erzählen. Er wäre auch nicht da. Würde Urlaub nehmen. Die Frauen wären zu ihm gekommen, hätten 10 € verlangt, er hätte sich geweigert.
Ich bin überrascht. Ich hätte von ihm nicht soviel Courage erwartet.
Dann am Geburtstag sind gerade 2 Männer da. Die anderen haben Urlaub genommen, ich fange erst später an.
Beim Betriebsausflug haben zwei mitgemacht. Die anderen sparen sich die 25 €. Der Betriebsausflug wird vom Betriebsrat organisiert - Attac-Mitglied.

Interessant, wie versucht wird, das Lohnarbeitsverhältnis zu familialisieren. Das hat mich zu dem nächsten Thema veranlasst: Individualisierung und Zugehörigkeit und die Rolle des Christentums.

10.7.07

WAHRER ANTIKOMMUNISMUS

In der Jungen Welt vom 6.7.7 lese ich ein Gespräch mit H. H. Holz, Philosoph und DKP-Mitglied. Mir wird dabei übel.

erst schreibt man Stalin ab, dann schreibt man Lenin ab, dann schreibt man Engels, dann schreibt man Marx ab, und dann ist man bei den utopischen Sozialisten. Und da kann man dann wunderbar jeder Idee nachhängen, jedem Idealismus sich hingeben.

Er spricht von
Notwendigkeit einer äußersten Härte der Diktatur des Proletariats
und gleichzeitig von
Faschisierungstendenzen eines Bundesinnenministers.

Was hält er von der
These von der neuen Unübersichtlichkeit der Welt ? Das ist ein Element dessen, was ich Defätismus nenne.

R. Reiche hat 1970(?) in einem Ausfall gegen die „Marxisten-Leninisten“ diese als die wahren Antikommunisten bezeichnet, weil sie es geschafft haben mit ihren Verbrechen einen Weg in eine menschliche sozialistische Zukunft für immer verbaut zu haben.
Es war mir immer unverständlich, wie jemand der DKP beitreten kann, dieser Organisation bürokratischer Menschenfeindlichkeit. Entweder war er ein politischer Idiot oder menschlich verkommen.

1.7.07

SOLIDARITÄT

Mit dem folgenden Text habe ich mich sehr schwer getan, deswegen auch die lange Pause. Es geht um Möglichkeiten einer anderen Politik in der Fabrik.
Begonnen hat das Problem mit dem Versuch, die Feindschaftsverhältnisse, in denen ich im Betrieb lebe, aufzuarbeiten. Was fehlt, so dachte ich naiv, das ist „Solidarität“, „solidarisches Verhalten“ und es ist die böse –von außen verordnete und verinnerlichte - Konkurrenz, die uns das Leben so schwer macht.
Dabei kam ich zu allerhand Relativierungen, Arbeit mit Begriffsverwirrungen usw. Mein Motiv, eine Attacke gegen meine Kollegen zu reiten, wurde mir (durch das politisch korrekte Nachdenken) verunmöglicht.

Um gleich zur Sache zu kommen: Ich habe einen Kollegen, zu dem ich anfangs eine gutes Verhältnis hatte. Sofort nahm er mich unter seine Fittiche, interessierte sich etwa dafür, welche Hobbys ich hatte. Von ihm bekam ich Einiges vom Betriebsablauf erklärt und es gab immer wieder Themen mit ihm zu bereden. Das Verhältnis wurde getrübt durch seine Kommandos und Befehle, die er mit dieser Patronage verband. Ich nahm das als die für einen Neuling nötige Belehrung in Kauf. Umgekippt ist das Verhältnis aber einmal dadurch, dass mit Einrichtung einer neuen Maschine er in die Position kam, von mir die Welt erklärt zu bekommen, was ja noch anging. Aber dann stellte ich fest, wie er gewisse Leute mobbte, Neue in einer sehr befremdlichen Art anherrschte. Dann sah ich ihn (billigen, illegalen) Kaviar verkaufen, hörte von seiner Liebe zu Militärdienst (in Moskau, der unfreundlichsten Stadt der Welt), notierte seine (dilettantischen) Tätowierungen, nervte mich an der Art und Weise, wie er Arbeit reduzierte und anderen überließ. Und irgendeinmal meinte ich sauer, wie er sich verhalte, wäre typisches Ostverhalten. Er war tödlich beleidigt. Ich wurde zu seinem Feind. (Der Vorteil für mich bestand darin, dass ich nun keine Probleme mehr hatte, mich von ihm abzugrenzen.)
Kann man von einem solchen Menschen so etwas wie solidarisches Verhalten erwarten, oder ist er, da auf eigenen Vorteil und die Demütigung anderer fixiert, hoffnungslos verloren für eine demokratische Bewegung?

Was bedeutet „solidarisches Verhalten“?
Das Problem dieses Begriffes liegt darin, dass er einmal einen Charakterzug, die Fähigkeit sich zu solidarisieren, nahe legt, dann eine moralische Tugend – in manchem identisch mit einem Charakterzug. Und dann kommt man wohl oder übel zu einem bürgerlichen Tugendkatalog. Diese Tugendbedeutung wird etwa benutzt von H.E. Richter in seinem Buch „Lernziel Solidarität“, oder in der 68er-Parole „Solidarisieren – Mitmarschieren!!“. Es kann auch eine aus der „Nächstenliebe“ religiös abgeleiteten Kategorie sein oder ein abstraktes Postulat, wie etwa für die SPD, die es dann je nach Lage fordernd einsetzt.
Natürlich wird es ein auf sein eigenes Überleben fixierter Fabrikarbeiter nie zu dieser generösen Tugend bringen. Schon zu Seinesgleichen ist das Mitgefühl dadurch unterbunden, dass der gleiche Andere ihm zum Konkurrenten wird. Wieso sollte er Mitgefühl für einen ausgebeuteten Chinesen aufbringen, wenn er durch ebendiesen seine Arbeit verliert. Oder um weniger abstrakt zu reden: Polen und Tschechen durchsetzen mit billigen Angeboten den Markt, den wir beliefern. Weshalb sollten wir für sie Entwicklungshilfe leisten und auf unsere Jobs verzichten?

Das Gefühl der Solidarität ist verbunden mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein, einer Selbstwahrnehmung von sich als Teil einer gemeinsamen gesellschaftlichen Gruppe oder Klasse. In einer Gemeinschaft treten sich die Individuen untereinander nicht als Konkurrenten gegenüber, sondern sie haben ein gemeinsames Ziel, für das sie gemeinsam zusammenarbeiten.

Diese Klassensolidarität wird aber zuerst schon dadurch verhindert, dass sich die Leute nur als Versager, als Defizitäre wahrnehmen können. Minderwertige finanziell, kulturell, sprachlich, schulisch. In den Medien haben sie kein repräsentierbares Bild. Dieser „Berufsstand“ kommt nicht vor. Wäre interessant, das Fernsehen, vor dem Leute bis zu 5 Stunden am Tag hocken, durchzuchecken, welche Arten von gesellschaftlichen Typen und wie abgebildet werden.
Sich als Gleiche mit gleichen Interessen zu erkennen bleibt den Fabrikarbeitern so weitgehend verwehrt. Selbst die Gewerkschaft tut alles, um Öffentlichkeit zu verhindern. Die ausgehandelten Tarife sind nur mit Schwierigkeiten einzusehen. Auch in den anderen Medien werden bewusst Informationen über Einkommensverhältnisse, wenn überhaupt nur unklar, nicht aufgeschlüsselt nach Klasse und Schicht, dargestellt. Oft sind Journalisten unfähig zur Analyse oder korrekten Darstellung von Statistiken. Es fängt meist an mit der fehlenden Unterscheidung von Brutto und Netto.
Definiert man Solidarität mit Identifizierung, stößt man auf das gleiche Problem. Die Menschen können sich zwar untereinander als Schweine, Asoziale, Antisoziale, als Defizitäre identifizieren – die anderen sind die gleichen Versager wie ich – aber nicht als soziale Subjekte.
Was ist der Unterschied? In der Identifikation trete ich in Beziehung zu einem anderen in Beziehung als einem Ähnlichen oder partiell Gleichen (Ein gemeinsamer Gegner kann ausreichen). Beim Aufeinandertreffen von sozialen Subjekten dagegen gehen diese von der Verschiedenheit aus und versuchen eine Einigung zu finden. Sie anerkennen ihre Unterschiede und versuchen darüber hinaus zu einer Gemeinsamkeit zu kommen.

Bei der gestrigen Verabschiedung einer Frau in die Rente werde ich wieder mit allen Varianten politischer und sozialer Ignoranz konfrontiert: Da ist die Fleischfraktion, die unbedingt viel Schwein auf dem Teller haben will, - kein Tag ohne Fleisch. Da ist die Fress- und Trinkfraktion, die trotz 100 kg möglichst viel in sich hinein zu löffeln versucht. Da sind die Autofahrer, die für die 5 km nach Hause – für mich auf dem Rad 15 Minuten mit Ampeln – 9 km fahren und im Urlaub natürlich fliegen.

Was heißt da solidarisches Verhalten?
Diese Individuen scheinen nur noch in einer Art von expansiver Selbsterhaltung zu leben. Das ist wohl eine Sicht von außen. Für sich könnten diese Leute alle möglichen Arten von sozialem Solidarisieren angeben: in der Familie, beim Feiern im Verein usw. Und sie könnten mir leicht vorwerfen, dass ich das nicht mache. Vielleicht wäre ich in ihren Augen ein asozialer Moralapostel, der den Menschen nichts gönnt.

Nun gut - wir saßen zusammen und wussten nicht recht, was wir miteinander reden sollten. In meinem Fall wird das der Leser vielleicht noch etwas erklärbar finden, bin ich mit dem Kopf ohnehin ganz anderswo. Ich habe trotzdem versucht, irgendwelche gemeinsamen Themen zu finden: Urlaub, Klimaanlage und dergleichen. Aber ich sehe, bei den anderen wird fast gar nichts geredet. Es zerfällt schließlich in Gruppen. Die einen sprechen jugoslawisch, die anderen russisch miteinander, die Rumänen saßen zu getrennt, um miteinander reden zu können und mussten dann über den Tisch reden – Sprüche klopfen. Der Anderskontinentale ist ganz raus gegangen. Und die isoliert sitzenden Volldeutschen sind stumm geworden. Das hat fast zwei Stunden gedauert.

Nicht, dass der Wille nicht da gewesen wäre. Man saß ja brav um den Tisch, aber es wollte nichts zusammen werden. Sieht man von den Versuchen ab, mit sexuellen Anzüglichkeiten breitere Zustimmung zu finden. Vielleicht, wenn die verschiedenen Grüppchen mehr zusammengerückt wären, hätte es vielleicht „geselliger“ werden können.

Es gäbe jetzt psychoanalytische Gruppendynamiker, die würden von gruppendynamischen Angstvermeidungstechniken reden. Da sind Kampf-Flucht, Paarbildung, Idealisierung des Führers. Die beherrschende Angst ist die vor der Entmachtung und Entwertung („Kastration“) durch den Führer. Die Überwindung des Ödipuskomplexes würde erst das freie Sprechen über seine Probleme, Bedürfnisse, Interessen ermöglichen.
Wir sind – Chef, gut oder nicht – ein autoritärer Laden. Wir sind nicht gewohnt, uns selbst zu organisieren. Durch die Konkurrenz gezwungen stehen wir uns feindlich gegenüber. Die Macht des Arbeitgebers macht unsere Stellung prekär.

Die Autonomie ist eine gebrochene. Sie befähigt zu Freund-Feind-Verhältnissen, hat aber keine organisierende Kraft, die allgemeine Interessen ausdrücken könnte. Ihr fehlt auch der Wille zur Einigung, stolpert immer gleich in Feindschaftsverhältnisse. Entsprechend verhalten sich die Individuen verantwortungslos gegenüber einem allgemeinen Interesse. Vernunft, die ein solches allgemeines Interesse formulieren würde, steht nicht mehr zur Diskussion. Das, was man hier beobachten kann, lässt sich auch beobachten in der öffentlichen Debatte um allgemeine Rechte, etwa Ausbildung, Einkommen, Arbeit.
Die Sache geht von unten nach oben. Wenn der Chef vom wirtschaftlichen Verlauf der Firma spricht, dann von den Erfolgen der Firma auf dem Markt, da wo sie diesen Vorsprung wieder herzustellen hat. Das Kartell, also Absprache über eine Aufteilung des Markts, widerspricht dem Wesen der Konkurrenz, obwohl im Kern nicht unvernünftig.


Die Verabschiedung zeigt aber auch, dass Solidarität auch bedeutet, über die eigenen Interessen hinaus zu denken. Solidarität ist mehr als Gruppeninteresse. Solidarität schließt letztlich alle mit ein. Sie geht auch über einen nationalen Horizont hinaus. Das bringt nun auch den Aspekt des Wissens (um die Lage anderer Menschen) mit herein. Ein andere Sache ist die der Einstellung, geformt durch Wissen, Bewusstsein, Moral (etwa: alle Menschen sind gleich) sich mit anderen zu solidarisieren. Wird auch Menschlichkeit genannt.

Exkurs Moral: Eine utilitaristische Moral begründet sich mit der Erfahrung, während eine humane Moral prinzipiell ist, also an Geboten festhält, auch wenn sie keine Belohnung mehr finden.

Führt aber ein solcher Begriff von Solidarität, der über einzelne Gruppeninteressen hinausgeht – was die Leninisten „gewerkschaftlich“ oder „syndikalistisch“ nennen – nicht zu jenem bürgerlichen Tugendkatalog und Verhalten, das die Mittelklasse und das Bürgertum in ihrer Politik so gut verstehen? Für Lenin etwa ist nur eine Elite in der Lage, die kommunistische Idee zu begreifen, ebenso wie jeder hiesige Sozialarbeiter, Politiker oder Gewerkschaftler seinen Klienten die Fähigkeit absprechen würde, in allgemeinen gesellschaftlichen Normen zu denken. Ihre Selbstbegründung liegt ja gerade darin, etwas zu vertreten, was die anderen – sei es aus taktischen, intellektuellen, charakterlichen oder moralischen Gründen so nicht können. „Politik“ heißt in Abgrenzung zur reinen Interessenvertretung Individualinteressen als Teil von oder in Berücksichtung von „Gesamtinteresse“ zu vertreten. Sie damit konsensfähig zu machen. Das ist etwa die Bemühung des Keynesianers Hickel, der regelmäßig wiederholt, dass hohe Löhne zu einer allgemeinen Wirtschaftsbelebung führen.
Die Lohnhöhe ist aber keine soziale Größe, sondern eine verdinglichte Form davon.
Rechte dagegen sind Begriffe, nicht real existierend, erst herzustellen, nicht verlässlich. Sie werden immer wieder ausgehandelt und vereinbart. Sie erfordern Verhandeln und Diskussion miteinander, das Suchen nach allgemeinen Zielen und Werten.
Eine Gesellschaft aber, deren Zentrum das Geld ist, sei es als Lohn oder Profit, braucht dieses Aushandeln von gesellschaftlichen Zielen nicht. Vorrang hat die Anpassung an das, was Geld oder Profit bringt. Geld verhält sich zur Gesellschaft vereinfacht gesprochen wie Milch zur Mutter. Als Kinder wachsen wir in einer Beziehung zur Mutter auf. Dabei ist die Muttermilch etwas worin sich dieses Verhältnis „materialisiert“. Milch ist die Materie, aber das Verhältnis zur Mutter entzieht sich materiellen Bestimmungen, ist eine Sache von Gefühlen, Sprache, Kommunikation, Gemeinsamkeit usw. Wird dieses Verhältnis aber problematisch und unberechenbar, - dann wird es fixiert auf seine Materialität: x ml Milch, x Pflegeeinheiten, das oder jenes Erziehungsverhalten, Rollenverhalten. - Mutter und Kind stehen sich dann fremd gegenüber. Die gemeinsame Beziehungsgemeinschaft, wo jeder mit seinen Äußerungen a priori Anerkennung findet, wird aufgelöst in eine Aufzuchtanstalt mit definierten Rollen und Rechten, vergleichbar einem Kuhstall. Oder wie es dann zynisch formuliert wird: Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral. In der gleichen Logik gibt es im Kapitalismus eine Priorität der „Materie“ vor den sozialen Beziehungen. Dinge vor durch Handeln bestimmte Beziehungen.
In der Schule lernen dann die Schüler etwas, was ihnen später Geld bringt, nicht sich zu äußern und miteinander verständigen.
Eine soziale Beziehung ist auch mehr als ein Rollenkatalog von Rechten und Pflichten, es übersteigt etwas Definierbares. Grundelement ist die Anerkennung des Anderen. Es lässt sich auch nicht auf Austausch von irgendwas reduzieren (Etwa wie Kant es tut in der Definition der bürgerlichen Ehe als einer „Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“)

In der Fabrik dagegen werden entsprechend dieser „materialistischen“ Logik oder einer Dominanz des „Faktischen“ in den Arbeitsverhältnissen gesellschaftliche Forderungen nicht gestellt. Etwa: Betriebsdemokratie, demokratische Ausbildung, Befähigung zu Selbstverwaltung und politischen Autonomie. Nein, in den Augen der Arbeiter ist die „Wirtschaft“ ein hochkomplizierter und unbeherrschbarer Mechanismus, bestenfalls eine Kuh, an deren Euter man irgendwie rankommen muss.
Stattdessen wird der gesellschaftliche Status - so wie jemand Ansehen hat und Einfluss auf andere ausübt - eine Sache der Dinge, die sich jemand leisten kann: Bildung, Kleidung, Freizeit, Einkommen usw.


Die Aktentasche des Chefs
Der Chef wird 40. Grund oder nicht – jedenfalls wird von dem Kreis der Vorarbeiterin und Betriebsratsbewerberin – alles Gewerkschaftler – Geld gesammelt für ein Geschenk für ihn. Zuerst 2,50 €. - Meinetwegen, soll erhaben. Andere, Kollegen, wurden 50 Jahre alt - ohne Sammlungen.
Jetzt kommt sie wieder. Das Geld für die Aktentasche, die sie ihm schenken wollten, würde nicht reichen. Sie bräuchten noch einmal 2,50 €. Ich werde sauer: „Wir sind hier doch nicht in der Schule. Das ist doch Personenkult. Er ist doch kein König. Der verdient drei, vier Mal soviel wie wir. Bei anderen wird auch kein solches Geschiss gemacht.“ - Sie meint: „Aber der Chef ist doch so gut zu uns.“

Das ist jetzt nicht nur spezifische – manchmal sehr angenehme - Aussiedlermentalität, die gewohnt ist, sich mit ein bisschen Geben (und Nehmen) menschlich gute Kontakte zu halten. Das ist auch nicht nur das Wohlverhalten des weiblichen Geschlechts, wie man es von der Schule her kennt. Es zeigt auch die untertänige, obrigkeitsdevote Haltung, die bei vielen Arbeitnehmern besteht.

Bei den Ostemigranten gibt es dazu eine natürliche Solidarität mit dem warenproduzierenden System. Sind sie ja nicht ausgewandert, um neue Beziehungen einzugehen, sondern um an den Produkten des Kapitalismus „teilzuhaben“. (Nicht zu vergessen natürlich die Barbarei in den Gesellschaften des Ostens. Fraglich aber, ob sie hierher gekommen, um an einer gerechteren und mehr solidarischen Gesellschaft teilzunehmen.)


Zwar mag in den Köpfen meiner Kollegen die Warenwelt oberste Priorität haben, so sind doch in jedem Menschen Vorstellungen, Gedanken über Gerechtigkeit vorhanden. Diese freilich sind in der Regel sekundäre. Wie wir ja im Allgemeinen zuerst handeln und uns dann die Rechtfertigung ausdenken, und die oft erst, wenn wir danach gefragt werden. Die Gerechtigkeitsvorstellungen dürften wohl so aussehen: Ich arbeite und bekomme dafür Lohn. Wer nicht arbeitet, bekommt keinen Lohn. Wer viel arbeitet, bekommt mehr Lohn. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen (Paulus). Und irgendwo ist da auch noch angesiedelt: „Wir werden beschissen, wir haben und bekommen zuwenig, wir haben Hunger nach mehr.“ Einerseits. Und aber auch, andererseits: „Wenn es der Firma – der Wirtschaft - gut geht, geht es uns gut.“ Und so sind sie ohne es bewusst zu wollen mit dem System verkettet.
Die jenseits dieses Systems denken, werden sie aussortieren als: Kommunisten, Chaoten, Spinner usw. Und sie werden einen Kampf für eine aussichtslose Sache ablehnen, bzw. einen Boykott der Kompromissler, die ihren Lohn mit dem kapitalistischen System vereinbaren wollen.


Inwieweit ist Solidarität doch eine Charakterfrage?
Menschen sind durch das Aufwachsen in einer gewissen Umwelt nicht mehr in der Lage, andere Menschen als mit sich selbst gleiche sehen, oder solche, die ähnlich wie sie selber denken und fühlen. Durch die Erfahrung, dass sie von anderen Menschen nur in Nachteil gesetzt werden, geht eine vertrauensvollere Sicht der anderen Menschen verloren. In der Verallgemeinerung dieser Erfahrungen wird es zum bösartigen Charakter.
Jetzt könnte man optimistisch einwenden, dass im konkreten Fall sich die Individuen verändern und ihren Egoismus aufgeben, dass der Mangel an solidarischem Verhalten eine Frage vor allem der praktischen Projekte wäre.
Ich gebe zu, dass wenn solidarische Projekte zur Debatte stehen würde, sie mit der Beteiligung auch derer rechnen könnten, die sonst nur misanthrope (menschenfeindliche) Konzepte anwenden. Solche misanthrope Konzepte sind: Kontrollverhalten, Identifikation mit oder Benutzen von Macht und Autorität, Demütigung anderer, bis hin zur Gewalt.
Das Problem aber besteht darin, dass solche Projekte eben auf Grund der politischen Machtverhältnisse, der Medien, nicht zur Debatte stehen. Sie bräuchten eine Reflexionszone, einen Raum, wo miteinander gesprochen werden könnte, wo sich Individuen treffen, die gewisse Grundsätze des sozialen Verhaltens – kein Mobbing, keine Denunziationen, Gleichberechtigung usw. – einhalten. Deswegen wird man Initiativen aus diesem Bereich kaum erwarten können. Die Grundbedingungen fehlen einfach.

Also ist Solidarität, sich mit anderen zu identifizieren zu können, doch eine bürgerliche Tugend?
Es gibt in der Mittelschicht eine gewisse Liberalität, eine scheinbare Offenheit. Sie findet aber schnell dort ihre Grenze, wo die eigenen Vorteile und Privilegien in Frage gestellt werden oder in Gefahr geraten. Für mich selber war der Umgang mit Bürgerkindern eine ambivalente Erfahrung. Einerseits haben sie einen weiteren geistigen Horizont, können sich integrativ verhalten - andererseits werden die Unterschiede bald bewusst. Sie verstanden sich ihre Pos(i)t(ion)en zu sichern, sich bei aller Rede von Revolution etc. materiell und standesgemäß abzusichern.
Die Solidarität verwandelt sich im Bürgertum in Wohlfahrt. Auf der Basis einer überlegenen Position. Von oben.


Ist ein Umlern- und Umdenkprozess möglich?
Er hätte verschiedene Bedingungen:
- Die Struktur des Systems der individuellen Vorteilnahme und wie es sich im individuellen Verhalten reproduziert, müsste bewusst werden
- Projekte der Demokratisierung in den Institutionen, vor allem Schule und Betrieb müssten entworfen, ausprobiert, reflektiert werden können.
Das wird nicht möglich sein, da die herrschende Klasse mit allen Mitteln über Medien, Technik, Arbeitsorganisation die Idee von Gleichheit, fairer Gesellschaft zerstören wird.


ZUR METHODE
Man kann mir vorwerfen, dass ich mich gegenüber der Arbeiterklasse mit solchen Analysen elitär und arrogant verhalte. Aber frei nach Kant, kann sie sich aus ihrer Unmündigkeit nur befreien, wenn sie diese als zu einem Teil selbstverschuldet erkennt, wenn sie den eigenen Beitrag an der Aufrechterhaltung der Verhältnisse ihrer gesellschaftlichen Entmachtung erkennt.
In der Regel dreht sich „linke“ Politik darum, dass man auf einen Gegner eindrischt, die Repression beklagt, die Ungerechtigkeit usw. Aber man schafft sich dadurch bestenfalls Parteigänger, Anhänger usw. - und zerstört das Projekt einer autonomen Klasse. Wir sind dann im Bereich der Parteien, des Antifaschismus (der Gymnasiasten gegen die Hauptschüler), der Bekämpfung des Bösen – ohne dass sich die gesellschaftliche Stellung der Anhänger verändert. Die soziale Revolution ist keine Parteisache. Alles andere als eine Demokratisierung der Basis interessiert mich nicht. Es wären nur Bewegungen an der politischen Oberfläche.
Das andere Elend der „linken“ Politik, in direktem Zusammenhang mit der Bekämpfungspolitik, ist ein Materialismus der Forderungen. Mehr Lohn, mehr Staatsgelder usw. – nicht aber eine andere Stellung der Menschen, andere Beziehungen.
Nur in einer „Aneignung des Produktionsprozesses“ ist eine Autonomie möglich. Das geht natürlich über Fabrikproduktion hinaus. Es beinhaltet die Reflexion der Fragen:
- Was brauchen wir? Was sind die Ressourcen?
- Wie produzieren und verteilen wir?
- Wie organisieren wir es möglichst demokratisch?

Es gibt – so kann man einwenden – keinen Adressaten für meine Gedanken. 0 Kommentare, das spricht wohl für alles. (Ich hätte auch Angst vor deren Kritik). Meine Gedanken, they are blowing in the wind … Oder, schlimmer noch: sie richten sich in Sprache, Theorieanspielungen an ein bürgerlich gebildetes (linkes) Publikum – also gerade jenes, das es immer wieder bekämpft. Schon gar nicht an die Arbeiter, Kollegen. Wollte ich wirklich was ändern, warum ginge ich dann nicht in die Gewerkschaft?
Dazu meine Antwort: Ich werde an dem Verlauf der Geschichte nichts ändern. Ich kann nur das Verhängnis zeigen. Warum sich nichts wirklich ändert. Was die Richtung wäre, wie sich etwas wirklich verändern könnte. Meine Hoffnung ist nicht die Krise. (Wie es sein wird, wenn es so weiterläuft, wird noch zu beschreiben sein).
Ich schreibe das auch nicht als Arbeiter, sondern als „arbeitender Nachdenker“. Das Wort „Intellektueller“ wird ja besetzt für die bürgerlichen Schwätzer, finanziert von ihren bürgerlichen Verlagen. Hätten sie den Begriff wirklich verdient, würden sie an dem festhalten, wie es eigentlich sein müsste. Das ist nur eine kleine Zahl. Noch ein kleinere, die sich um Basisdemokratie Gedanken macht.