2.3.08

LITTELL

Nachdem, was zuerst über Littells Buch berichtet wurde, spürte ich Abwehr dagegen, Verdacht auf die französische Neobürgerlichkeit, Bedienung der Ressentiments gegen den Boche. Auch halte ich es nicht für möglich, authentisch vom Gesichtspunkt eines anderen zu schreiben.
Beim Lesen dieser ersten 120 Seiten bin ich dann still geworden. Zuerst sind es viele dicke Sätze – man schluckt sie – dann werde ich in das Subjekt des Romans hineingestoßen: Selbstmordfantasien, jemand ist ehrlich, will die Wahrheit, will nicht verleugnen. Man nimmt ihm die Bekenntnisse, die Gefühle ab – Nichtigkeit, Ekel, Erbrechen. Gleichzeitig wird klar, dass es einen solchen SSler nicht gibt. Diese Leute hätten sich nur herausgeredet, hätten die Verantwortung abgelehnt, hätten sich als sauber, harmlos oder wenigstens banal dargestellt. Wer steckt also hinter diesem erzählenden Subjekt? Man erinnert sich an die existenzialistische Literatur; „Ekel“, „Die Fliegen“. - Ich meine: das Subjekt sind wir. Wir die Nachgeborenen, die, die überlebt haben. Was passiert ist, stellt jede positive Zukunft in Frage. Die Gerechtigkeit würde ein Ende der menschlichen Geschichte verlangen.
Dem Autor ist das wohl nicht klar. Denn sonst hätte er das nicht schreiben können. Er hat sich auf ein Spiel eingelassen und weiß vielleicht nicht, wie ernst es ist. Zumindest verraten seine Interviews nicht viel davon. Angesichts des Bösen wird das eigene Böse zum Guten.
Also doch eine Lüge? Wir werden mit der Fragilität von Moral und gutem Selbst konfrontiert. Wir hätten an die Stelle von Aue geraten können, bzw. er ist uns nicht mehr so fern.
Da sind Bildungsfetzen, irgendwelche zerstückelte Bildungstrümmer, Phrasen, Worte. Was als "humanistisch“ läuft, eine Vorform der
Barbarei. Der zentrale Punkt der griechischen Tragödie, ihr Ziel, aber war die Katharsis. Ist die noch möglich?
Jedenfalls ist „geistvoll“ oder „kultiviert“ mehr als mit Zitaten zu spielen.

Dann die Sendung in Arte. Von Großereignis ist die Rede. Stolz präsentieren sich Beteiligte. Schirrmacher, der wohl ehrlich meint, so oder irgendwie ließe sich Vergangenheit bewältigen. Dazu passt, dass der Autor die Ursache des Bösen im Staat sieht, wie Hilberg in der Bürokratie usw., im Totalitarismus. Die Beteiligten sind nur durch ein zufälliges Schicksal Verstrickte. Das ist die Lüge.
Sie besteht in der Ausschaltung des Subjekts, die im Roman vollzogen wird – ein Trick dazu ist die Homosexualität des Berichtenden. Natürlich sind die begangenen Taten Folge von für den „normalen“ Menschen wesensfremden Motiven, „ichfremd“. Aber gerade deswegen kommt der „Roman“ uns auch so nahe – weil er diese für uns fremden Motive in uns selbst anspricht. Wir sind ja auf demselben Mist wie unsere Väter gewachsen.
Aber die Bürokratie, der Staatsterror hat eine subjektive und individuelle Seite. Solange sie strukturalistisch entfremdet bleibt, oder Verantwortung negiert wird wie bei der Nazigeneration, wird diese Seite nicht adäquat bewusst. Es bleibt bei Ausreden und potentiellem Wiederholungszwang. Die Ohnmacht schafft die Allmacht.

Die Identifikation des Lesers erfolgt paradoxerweise über die Homosexualität des Roman-Ichs: „Es interessiert mich, aber es bin nicht ich“. Sie führt den Roman zu verschiedenen Aspekten. Als Homosexueller ist er außerhalb der Gesellschaft, es gibt keine Bindungen an andere Menschen. Das ist ein übles Klischee, aber es funktioniert. Dieser Status ermöglicht dem Berichtenden die Wahrheit ungeschminkt zu sagen. Durch seine Homosexualität gerät er schließlich wider Willen in den verbrecherischen Sicherheitsdienst. Darüber hinaus lässt sich durch die Homosexualität des Berichtenden die Komplexität menschlicher Beziehungen auf Männerbeziehungen und Gewalt reduzieren. Der Homosexuelle, zur ständigen Tarnung gezwungen, führt ein Innenleben, das dem Roman die Form gibt und Identifikation erzwingt. Endlich bietet – wieder ungerecht - die Homosexualität dem Roman das männliche Material zur Verfügung: Sperma, Blut, Scheiße, Gestank, Leichen. Wie überhaupt männliches Denken sich äußert in den Zahlen und Berechnungen, Beschreibung von Maschinen und Maschinerien, bürokratischen Apparaten.
Apropos Maschine: Schuld wird von Aue abgestritten und erdrückt ihn doch als Gefühl, kehrt als Sehnsucht nach dem schuldlosen Urzustand negativ wieder, als ein verstecktes Verlangen nach Jungfräulichkeit in der Spitzenfabrik, mit deren Produkte Brautkleider dekoriert werden.
Interessant wäre, ob der männliche Blick gesprengt wird, ob das Andere (Geschlecht) auftaucht. Aber ich werde das Buch nicht weiterlesen. Es fehlt mir die Perspektive der Wende, der Revolution – Umkehr -, die Katharsis, die Versöhnung. Bücher dieser Art bringen Publikum und Retter nur in Wartestellung für das nächste Auschwitz. Man gewöhnt sich daran. Es führt nicht darüber hinaus. Er missbraucht die Geschichte für eine coole Attitüde, die Konstruktion der eigenen Güte angesichts des Bösen.

Die bisher einzig authentische Annäherung an den Judenmord bleibt „Shoa“ von Lanzmann.

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