3.11.08

MEIN VATER?

In einer Zeitung sehe ich ein Bild von 1944, auf dem von deutschen Soldaten ein Mann bewacht wird, der dann später als Partisan hingerichtet wird. Einer der Soldaten könnte mein Vater sein. Ich vergleiche Fotos von ihm im Krieg mit dem Bild: dieselbe Uniform, das gleiche Abzeichen, nur das Käppi finde ich auf seinen Kriegfotos nicht. Aber er hat sich zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, wohl in der Nähe dieses Orts aufgehalten. Figur, Gesicht und Alter stimmen überein.
Es war viel Distanz zwischen uns. Er hat in mir, wie er selber sagte, von Anfang an einen Feind gesehen. Ich war anders als er: Erstgeborener, meiner Mutter ähnlich, körperlich anders gebaut, wohlversorgt, ohne Hunger befürchten zu müssen und er war besorgt um mich, anders als sein Vater, der nicht wirtschaften konnte, die Kinder vernachlässigte, der Astrologie anhing, seine Mutter misshandelte. Mit noch nicht 13 Jahren musste er anderswo Geld verdienen.
Warum will ich ihm nun dieses Stigma anhängen und was sagt das über mich selber aus – meine politische Haltung?
In mir ist ihm gegenüber immer noch dieses Gefühl von Unzufriedenheit und Ablehnung, obwohl ich nach seinem Tod geglaubt habe, dass doch die positiven Gefühle die negativen überwogen haben. Etwas stimmt nicht. Ich fühle die Bosheit von ihm immer noch als Last, die mir keinen positiven Blick auf die Zukunft ermöglicht. Nur den auf das große Gericht, die große Katastrophe, den Weltuntergang, dessen Gedanke meine Kindheit beherrscht hat. Damals nicht nur eine religiöse Fantasie, sondern als möglicher Atomkrieg reale Gefahr. Heute als soziale und ökologische Katastrophe.
Da war sein Neid und seine Herablassung gegenüber mir, das Böse, das in mir von Kind an bekämpft werden musste. Mit der Forderung von Gehorsam und Selbstbeherrschung wollte er aus mit einen guten Menschen machen. Schläge, moralische Ansprachen und Bestrafungen waren notwendig. Als eifernder Katholik war er ja auf der richtigen Seite. Heute sagt man: Fordern und Fördern. Und ich wurde ja gefördert, immer wieder erlebte ich überraschende Momente von Großzügigkeit, die mich ihm gegenüber verpflichtet haben. Er hatte viele negative Gefühle, aber er versuchte, gerecht zu sein. Ich bin wohl früh auf Abstand zu ihm gegangen, habe ihn zufrieden gestellt und bin gleichzeitig insgeheim eigene Wege gegangen, die dann in der Pubertät zur Konfrontation geführt haben.
Wie sehr ich aber innerlich mit ihm verbunden war, wurde mir erst wenige Jahre vor und nach seinem Tod bewusst. Ganz früh, da war er einmal mein Vater. Und tief unten in mir ist er es während der ganzen Kontroversen auch immer unbewusst geblieben.
Das waren meine Gefühle, aber was waren seine? Die letzten Gespräche mit ihm im Krankenhaus: Er ist sehr gefasst, er nimmt an, dass er sterben wird, vollzieht die letzten katholischen Rituale. Mir gegenüber korrekt und adäquat: Keine Vorwürfe, keine Forderungen. Er spricht mit mir, so wie er gerne Gespräche mit anderen Menschen geführt hat, moderat, die Neigung zu aggressiven Ausfällen kontrollierend. Weil ich die aber auch kenne, wirkt es nicht ganz ehrlich. Er hält seinen Standpunkt durch, wir können uns nicht versöhnen. Es ist das normale Unglück des modernen Menschen.
Dann das sichtbare Misstrauen mir gegenüber, die Augen verengt, als er von der Sorge um meine Mutter spricht, dass sie wegen seinem Tod durchdrehen könnte - paternalistisch. Als sie ihn tot antrifft, bricht sie in Vorwürfe aus. Kein Vertrauen.
Sein Herz war schon längst bei den Toten: viele Friedhofsbesuche, Soldatenfriedhöfe während meiner Kindheit. Pflichtgemäß bekommen die toten Angehörigen an Allerseelen ihr Weihwasser. Dabei wüsste ich von keinem konkreten Toten, um den er getrauert hat, es ging wohl mehr um die eigenen getöteten Anteile in ihm, um eine Trauer über einen Verlust, der nicht konkretisierbar war. Bei einer Spanienreise war er magisch angezogen von dem faschistischen „Tal der Gefallenen“. – Nekrophil hätte es E. Fromm genannt, dessen „Haben oder Sein“ in seinem Schrank stand. Aber Fromm ist mir zu moralisierend schwarz – grün.
Hat er Schuldgefühle gehabt? Kann er der auf dem Foto gewesen sein?
Auf einer Fahrt nach Italien – ich war 19 – geht es am Gardasee vorbei, in der Nähe, wo das Foto gemacht wurde und wo Hunderte italienischer Partisanen gestorben sind. Mein Vater meint von Männern dort, dass sie sicher bei den Partisanen waren. Er fühlt sich sichtlich nicht wohl. – In Diskussionen verurteilt er das Partisanentum als feige und hinterhältig. Ja - wenn man Partisanen erwischt hatte, wären sie erschossen worden. Den Ausdruck, den er dafür im Dialekt verwendet, ist brutal, gedankenlos und dumm.
Natürlich war er keine treibende Kraft, hat nur Gehorsam geleistet, seine „Pflicht“ getan und dergleichen mehr. Aber hat er aus der Sache gelernt? Vergleiche ich ihn auf den Fotos mit Nachkriegs- und Vorkriegszeit, fällt auf, dass er nicht mehr lacht, dass er ernst wird, nicht mehr in Gesellschaft, sondern vereinzelt. In der Gefangenschaft studiert er die Predigten katholischer Priester, die zur Abgrenzung der Katholiken vom Faschismus aufgerufen haben. „Bekehrt“ kehrt er nach Hause zurück, missioniert sich und andere. Es ist seine Vergangenheitsbewältigung. Er tut Buße, ich soll sein Opfer sein. Schuld sind nun die anderen, die er mit seinen Predigten und Briefen angreift. 1956 nach der Einführung der Bundeswehr, wählt er nicht mehr die CDU. Es ist für ihn ein Verrat am Christentum.
Schuldgefühle? Der Krieg hat seine eigene Logik. Ist mit dem Töten erst einmal begonnen, entschuldigt das schon die nächsten Toten. Die individuelle Verantwortung ist aufgehoben, also auch das individuelle Gewissen. Trotzdem baut mein Vater um sich eine Mauer. Eine Mauer der starken Selbstdarstellung, des richtigen Glaubens, der Verurteilung anderer und des uns quälenden Schweigens. Seinen Körper durch das Stahlbad, den Schrecken des pausenlosen Trommelfeuers von Monte Cassino erstarrt, kann er manchmal nicht mehr bewegen, wird abhängig von Valium, später Antidepressiva. Das Misstrauen, mit dem er sich umgibt, zeigt sozialen Ausschluss, aber in dem politischen Charakter mehr integrative Kraft als die heute übliche Teilnahme vereinzelter Individuen an der Gesellschaft bloß durch Konsum.
Wie hätte ich mich verhalten, wäre ich in eine ähnliche Situation verwickelt worden? Angenommen, ich wäre an der Erschießung Schleyers beteiligt gewesen – ein unwahrscheinlicher Fall, da ich mit dem elite- und avantgardesüchtigen Verhalten dieser Gruppen nichts am Hut hatte. Ich hätte zwei Möglichkeiten gehabt: ich könnte es rechtfertigen, politisch oder moralisch. Das wäre die einfachste und leichteste Tour. (Vielleicht hat der Faschismusschatten, der mit Schleyer auf die BRD geworfen wurde, dann zur apolitischen Liberalisierung in den 80ern beigetragen. Es wurde zur Pflicht, sich locker zu geben.) – Oder ich würde das als politischen Fehler begreifen, weil in der unseligen Tradition der Verurteilung, des Rechts und der Rache stehend. Oder ich könnte es als moralisch fehlbar begreifen, wenn der Staat um Schleyer meine Einwände gegen ihn als prinzipiell berechtigt anerkennen würden und eine Bereitschaft zur Verhandlung und Diskussion vorhanden wäre. - Soweit ein Gedankenspiel.
Übertragen auf die Situation meines Vaters heißt das: Da keine kollektive und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, - bestenfalls verdinglicht in Reparationen, Entschädigungen – stattgefunden hat, hat jeder seinen individuellen Schuldanteil auf andere abgewälzt. Auch aus der richtigen Wahrnehmung, dass keiner allein schuld ist. An die Stelle eines bewussten gesellschaftlichen Diskurses trat die unbewusste individuelle Verdrängung mit den Symptomen von Starrsinn, latenter Aggression, Rechtfertigungszwang, Projektion des Bösen auf andere.
Wir Kinder dieser Generation haben zwar nicht die politischen Inhalte von unseren Vätern übernommen, aber doch die Formen, die Feindschaftsbildung, die Fixierung auf das Recht, die Unfähigkeit, mit positiven Entwürfen andere zu überzeugen, weil von Misstrauen und Aggression geprägt, die Neigung zur Politik als Medium der Feinderklärung, des Kampfes und der Elitenkonkurrenz.

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