16.11.08

BEERDIGUNG IM HINTERLAND

Eine entfernte Verwandte in einem Dorf, in dem ich 10 Jahre gelebt habe, ist an Krebs gestorben. Ich radle die 60 Kilometer hin. Komme nach Umziehen in trauergemäße Kleidung im Wald eine Viertelstunde zu spät zum Requiem. Die Kirche ist bis zur Pforte gefüllt. Der Pfarrer spricht gerade über Heiligkeit, zitiert Hildegard Knef und dass auch die Tote nun zu den ungenannten Heiligen gehört. Ich stehe eingeklemmt im Eingang und kann die seit meinem Austritt vor 40 Jahren geänderten Gebete nicht mitbeten, kenne das Auf und Ab von Sitzen, Knien, Stehen nicht mehr, weiß nicht, wo das Kreuz geschlagen wird und wie die Hände gehalten werden. Die paar Hundert um mich wissen das alles. Ich kann keine bekannten Gesichter erkennen, sehe nur diese merkwürdige Uniformität von Menschen. Nicht nur das von Trauerschwarz, auch die der Körperformen: stämmige untersetzte Typen und einige wenige hagere Große. Die Gesichter, wie man sie von mittelalterlichen Bildern kennt; mit den Zeichen von Arbeit und Anstrengung, Gesichtsausdruck exzessiver Charaktere. Alle überformt vom Ritual, denen der Kirche und wie man es richtig macht. Da redet während der Beerdigung kein Mensch, stumm und geduldig bewegt sich die Schlange am Grab vorbei. Ich stehe mit meinem kleinen Rucksack zwischen den Beinen da wie ein weißer Rabe und versuche ihn zu verstecken.
Durch eine unsichtbare Regie geleitet ziehen nacheinander in hierarchischer Ordnung die verschiedenen Gruppen von Verwandten am Sarg vorbei. Als dann alles vorüber ist und sich die Menge aufgelöst hat, wird dann wenig zeremoniös der Sarg versenkt, so als wäre es eine jetzt die überflüssige Staffage eines Theaterstücks.
Die Autos rauschen wieder davon und das Dorf ist wieder im modernen Schlafzustand. Immer wenn ich hier durchkomme steht mein Eindruck davon in vollem Kontrast zu der Erfahrung meiner Kindheit. Damals waren die Straßen voll mit Leben: Kuhherden, Handwerker, die draußen arbeiten, Kinder, die springen und hüpfen, Fahrzeuge auf dem Weg vom oder zum Feld. Davon heute nichts mehr. Die Schulen sind außerhalb, die Bauernhöfe auf wenige reduziert und außerhalb des Dorfes angesiedelt – Agglomerationen von Maschinen und Silos. Gearbeitet wird irgendwo im Umkreis der nächsten 50 Kilometer. Der Ort ist zum Schlafdorf verkommen. Die ökonomische Basis für Heimatbezug ist weggebrochen und nun suchen die Einwohner nach Identität in örtlichen Vereinen, Partykneipen, auch in Ritualen. Die Menschen arbeiten zwar in anderen sozialen Zusammenhängen, aber der Mythos des Dorflebens hat sich gehalten, vielleicht sogar verstärkt. Ich fühle mich dem gegenüber wie ein Verräter. Die Kirche hat ihre Position mindestens bei den Älteren gehalten, musste aber dabei ihre aggressive Dominanz aufgeben und sich tolerant geben. Zumindest erscheint sie mir toleranter und aufgeklärter als die Menschen, deren Gewissheiten und Bräuche sie beherbergt.

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