29.11.08

DIE KLOOROLLE

Wie schon oft hängt im Kloo eine leere Rolle. Wie üblich fluche ich vor mich hin: diese faulen Schweine usw. Frage mich, wie kommt es zu diesem asozialen Verhalten? Es geht übrigens von oben nach unten. Da ist der Chef – immerhin ein Diplom Ingenieur wenn auch von lokalem Kolorit –, der große Stapel von vollkommen sinnlosen Computerausdrucken produziert – da sind die „Mit“-Arbeiter, die beim Händewaschen gleich packenweise Papierservietten verbrauchen. Ist es ein typisch männliches Dominanzverhalten derart, dass wer mehr verbraucht auch desto höher in der sozialen Hierarchie sich einordnen kann? Ist es Bewusstlosigkeit darüber, dass man damit die Welt kaputtmacht? Oder die Abneigung gegen kleinliche und geizige Sparsamkeit, die die Wahrnehmung solcher bekannter Tatsachen erst gar nicht zulässt? Oder ist es eine Gleichgültigkeit gegenüber einer Natur, die zugegeben in der Form der ökonomisch militarisierten Wälder ohnehin ihren Naturcharakter verloren hat? Oder ist dieses antiökonomische Denken Ausdruck des Widerwillens gegen Kindheitserfahrung, die noch von solchen Prinzipien durchherrscht gewesen sein mag?
Wie auch immer – wie sollen solche Menschen, denen der Gedanke an den nächsten fremd ist, geschweige denn an die nächste Generation – etwas für Sozialismus übrig haben?
Jetzt kann ich mir folgende Lösung bereit legen: Es ist der Kapitalismus, der die Menschen zu diesem Denken, nur um sich selbst zu sorgen, bringt. Es mag sein, dass das Unterlassen von öffentlichem Durchsetzen von sozialen Normen, von Ermahnungen, Hinweisen, Warnungen, der fehlende soziale Druck, sei es in Erziehung, sei es sonst im öffentlichen Raum, das Bewusstsein der Menschen um die sozialen Folgen ihres Verhaltens verkümmern lässt. Oder auch, dass die Glorifizierung der individuellen Freiheit - das Denken nur in Wertform, individuellen Kostengrößen – die Menschen in einen vorkulturellen Zustand der gegenseitigen Rücksichtslosigkeit bringt. Oder ist es die Tatsache, dass der Kapitalismus den Einzelnen in das Gefühl permanenter Not und Existenzkampfs bringt und die Gedanken an das Schicksal anderer verkümmern lässt. Oder erzeugt der Kapitalismus ein permanentes Gefühl von individueller Benachteiligung, das zur Wahrnehmung des eigenen Vorteils bis hin zur Rache für erlittenes Unrecht drängt.
Freud wird als Konservativer etc. abgetan, weil er in der patriarchalen Familie das Idealmodell des menschlichen Zusammenlebens sah, kulturell geformt durch die Triangulation im Ödipuskomplex, Triebkontrolle als Ideal. Dagegen wird von Guattari, Deleuze der Antiödipus mit seinen kleinen Wunschmaschinen gepriesen, eigentlich ein Autist, der sich konsumistisch abkoppelt und verbindet, so wie es ihm eben gerade passt. Und dann haben wir noch diese schweißige kleinbürgerliche DDR hinter uns mit ihren permanenten Appellen und Zurechtweisungen. – Mit ständigem Umkippen in den Zwang, beginnend mit Appellen endend im Gefängnis.
Gedanken, Gedanken.
Ich wechsle die Kloorolle und frage mich, wo das wohl hingeht. Soziologisch zumindest nicht uninteressant. Vielleicht haben sich alle „Reaktionäre“ die gleichen Gedanken gemacht, um sich ihr politisch und ökonomisches opportunes misanthropisches Menschenbild zurechtzulegen.

21.11.08

OPEL

Auch mein Senf dazu. Wie sagen taz und Lambsdorff? Lasst doch die Kunden entscheiden. Warum nicht einfach kaputt gehen lassen. Wozu umweltfreundliche Autos, wenn die Kunden BMW und Mercedes wollen? Dear Lord!
Kaputt gehen lassen. Ok. Aber dann schon Alternativen. Zunächst der Gedanke, dass sich alles ändern muss: Energieverbrauch, regionale Produktion, Schluss mit dem Konkurrenzsystem, statt der alten Mittelschicht eine neue Intelligenz, die die gesamte Gesellschaft und die Produktion denkt, neue Schulen, weg mit diesem Schmuddeljournalismus von öffentlichem Theater, dafür Informationen, Nachdenken über ein produktives Zusammenleben, demokratische Kultur, Einbeziehen aller, anstelle globaler Abhängigkeiten und der Angeberei mit Weltbürgertum (Nike, Adidas und bürgerliche Großkotzigkeit), die Reduktion wenn es sein muss auf face-to-face-Genossenschaften, Intelligenz, die auf Autonomie in der Produktion setzt.
Und wenn das nicht alles geht und zu radikal ist, dann die Politisierung der Märkte: was wird importiert, was nicht, was wird produziert, ABSCHOTTUNG – SUPER!!!
Nicht nur Demokratisierung und demokratische Entscheidung, sondern auch demokratische Verantwortung: Wenn ich unbedingt ein Auto haben will, dann muss ich auch ans Fließband und die Schäden bezahlen, die ich damit welt- und generationenweit verursache. VERANTWORTUNG, diese Worthülse, theatralischer CDU-Jargon, mit dem sich die Eliten schmücken und ihre tatsächliche Verantwortungslosigkeit – die Arbeit und den Dreck anderen überlassend – bemänteln.

Was ist realistisch? Leben ist doch nur noch eine soap, organisiert in Begriffen modischer Klischees ohne Bewusstsein in welchen Strukturen die Menschen stecken; nämlich die der Verwertung, große Konzerne im Finanzgeflecht, Rohstoffabhängigkeiten und Rohstoffproblemen, Die Verdünnung des Lebenssinns auf Arbeitshetze und Konsum, die Zerstörung von Autonomie zu Gunsten Einkaufsidentität, Eindimensionalität, historischer Dummheit und Bewusstlosigkeit, - „Leben im Hier und Jetzt“ - Glaube an Konsum, das „Bekommen“, Leben eine Wiederkehr von Weihnachten und gut versorgt sein durch das System, das Wohlfühl- und Wellnessleben.

Quo vadis System? Patches, noch mehr Intelligenz zur Systemerhaltung – Finanzkontrolle, Bankenaufsicht, Ratingagenturen, Staatsinterventionen zur Belebung des Marktes – und noch mehr Intelligenz zur Selbsterhaltung – neue Geschäftchen machen, neue Produktvarianten, neue Services, noch mehr Spezialisierung, neue Märkte überall, neue Tricks um an Staatsknete zu kommen, um am Geld- und Warenstrom etwas ohne Arbeit abzweigen zu können, denn die produktive Arbeit ist ja vom Kapital beherrscht.

16.11.08

BEERDIGUNG IM HINTERLAND

Eine entfernte Verwandte in einem Dorf, in dem ich 10 Jahre gelebt habe, ist an Krebs gestorben. Ich radle die 60 Kilometer hin. Komme nach Umziehen in trauergemäße Kleidung im Wald eine Viertelstunde zu spät zum Requiem. Die Kirche ist bis zur Pforte gefüllt. Der Pfarrer spricht gerade über Heiligkeit, zitiert Hildegard Knef und dass auch die Tote nun zu den ungenannten Heiligen gehört. Ich stehe eingeklemmt im Eingang und kann die seit meinem Austritt vor 40 Jahren geänderten Gebete nicht mitbeten, kenne das Auf und Ab von Sitzen, Knien, Stehen nicht mehr, weiß nicht, wo das Kreuz geschlagen wird und wie die Hände gehalten werden. Die paar Hundert um mich wissen das alles. Ich kann keine bekannten Gesichter erkennen, sehe nur diese merkwürdige Uniformität von Menschen. Nicht nur das von Trauerschwarz, auch die der Körperformen: stämmige untersetzte Typen und einige wenige hagere Große. Die Gesichter, wie man sie von mittelalterlichen Bildern kennt; mit den Zeichen von Arbeit und Anstrengung, Gesichtsausdruck exzessiver Charaktere. Alle überformt vom Ritual, denen der Kirche und wie man es richtig macht. Da redet während der Beerdigung kein Mensch, stumm und geduldig bewegt sich die Schlange am Grab vorbei. Ich stehe mit meinem kleinen Rucksack zwischen den Beinen da wie ein weißer Rabe und versuche ihn zu verstecken.
Durch eine unsichtbare Regie geleitet ziehen nacheinander in hierarchischer Ordnung die verschiedenen Gruppen von Verwandten am Sarg vorbei. Als dann alles vorüber ist und sich die Menge aufgelöst hat, wird dann wenig zeremoniös der Sarg versenkt, so als wäre es eine jetzt die überflüssige Staffage eines Theaterstücks.
Die Autos rauschen wieder davon und das Dorf ist wieder im modernen Schlafzustand. Immer wenn ich hier durchkomme steht mein Eindruck davon in vollem Kontrast zu der Erfahrung meiner Kindheit. Damals waren die Straßen voll mit Leben: Kuhherden, Handwerker, die draußen arbeiten, Kinder, die springen und hüpfen, Fahrzeuge auf dem Weg vom oder zum Feld. Davon heute nichts mehr. Die Schulen sind außerhalb, die Bauernhöfe auf wenige reduziert und außerhalb des Dorfes angesiedelt – Agglomerationen von Maschinen und Silos. Gearbeitet wird irgendwo im Umkreis der nächsten 50 Kilometer. Der Ort ist zum Schlafdorf verkommen. Die ökonomische Basis für Heimatbezug ist weggebrochen und nun suchen die Einwohner nach Identität in örtlichen Vereinen, Partykneipen, auch in Ritualen. Die Menschen arbeiten zwar in anderen sozialen Zusammenhängen, aber der Mythos des Dorflebens hat sich gehalten, vielleicht sogar verstärkt. Ich fühle mich dem gegenüber wie ein Verräter. Die Kirche hat ihre Position mindestens bei den Älteren gehalten, musste aber dabei ihre aggressive Dominanz aufgeben und sich tolerant geben. Zumindest erscheint sie mir toleranter und aufgeklärter als die Menschen, deren Gewissheiten und Bräuche sie beherbergt.

12.11.08

KONJUNKTUR RETTEN

Die exportabhängige Autoindustrie bricht ein. Ein Teil steigt auf das Fahrrad um, ein anderer auf billigere Fahrzeuge, ein anderer verschiebt den Kauf. Gute Zeiten für die Umwelt. Wir machen Fortschritte.
Statt nun neue Verkehrskonzepte zu entwickeln, neue Modelle von Arbeitszeitverkürzung, soll der alte Laden weiterlaufen. Jedes Jahr mehr Autos, mehr Energieverbrauch, mehr Einkommen (für die Mittelklasse). Also vorwärts in die Krise. Verschrottungsprämien, Kfz-Steuersenkung …
Die Linke bleibt bedeutungslos, da ohne Alternative. Um sich links geben zu können, braucht sie den Kapitalismus. „Negatorische Politik“, bloß keine Utopie. Schon gar nicht in Diskurs treten mit Menschen, denen nicht nach Palaver, sondern nach Handeln ist. (
Der Neoliberalismus ist tot- Es lebe der Kapitalismus!). Statt dessen antikapitalistisches und antifaschistisches Blablabla.

3.11.08

MEIN VATER?

In einer Zeitung sehe ich ein Bild von 1944, auf dem von deutschen Soldaten ein Mann bewacht wird, der dann später als Partisan hingerichtet wird. Einer der Soldaten könnte mein Vater sein. Ich vergleiche Fotos von ihm im Krieg mit dem Bild: dieselbe Uniform, das gleiche Abzeichen, nur das Käppi finde ich auf seinen Kriegfotos nicht. Aber er hat sich zu der Zeit, als das Foto gemacht wurde, wohl in der Nähe dieses Orts aufgehalten. Figur, Gesicht und Alter stimmen überein.
Es war viel Distanz zwischen uns. Er hat in mir, wie er selber sagte, von Anfang an einen Feind gesehen. Ich war anders als er: Erstgeborener, meiner Mutter ähnlich, körperlich anders gebaut, wohlversorgt, ohne Hunger befürchten zu müssen und er war besorgt um mich, anders als sein Vater, der nicht wirtschaften konnte, die Kinder vernachlässigte, der Astrologie anhing, seine Mutter misshandelte. Mit noch nicht 13 Jahren musste er anderswo Geld verdienen.
Warum will ich ihm nun dieses Stigma anhängen und was sagt das über mich selber aus – meine politische Haltung?
In mir ist ihm gegenüber immer noch dieses Gefühl von Unzufriedenheit und Ablehnung, obwohl ich nach seinem Tod geglaubt habe, dass doch die positiven Gefühle die negativen überwogen haben. Etwas stimmt nicht. Ich fühle die Bosheit von ihm immer noch als Last, die mir keinen positiven Blick auf die Zukunft ermöglicht. Nur den auf das große Gericht, die große Katastrophe, den Weltuntergang, dessen Gedanke meine Kindheit beherrscht hat. Damals nicht nur eine religiöse Fantasie, sondern als möglicher Atomkrieg reale Gefahr. Heute als soziale und ökologische Katastrophe.
Da war sein Neid und seine Herablassung gegenüber mir, das Böse, das in mir von Kind an bekämpft werden musste. Mit der Forderung von Gehorsam und Selbstbeherrschung wollte er aus mit einen guten Menschen machen. Schläge, moralische Ansprachen und Bestrafungen waren notwendig. Als eifernder Katholik war er ja auf der richtigen Seite. Heute sagt man: Fordern und Fördern. Und ich wurde ja gefördert, immer wieder erlebte ich überraschende Momente von Großzügigkeit, die mich ihm gegenüber verpflichtet haben. Er hatte viele negative Gefühle, aber er versuchte, gerecht zu sein. Ich bin wohl früh auf Abstand zu ihm gegangen, habe ihn zufrieden gestellt und bin gleichzeitig insgeheim eigene Wege gegangen, die dann in der Pubertät zur Konfrontation geführt haben.
Wie sehr ich aber innerlich mit ihm verbunden war, wurde mir erst wenige Jahre vor und nach seinem Tod bewusst. Ganz früh, da war er einmal mein Vater. Und tief unten in mir ist er es während der ganzen Kontroversen auch immer unbewusst geblieben.
Das waren meine Gefühle, aber was waren seine? Die letzten Gespräche mit ihm im Krankenhaus: Er ist sehr gefasst, er nimmt an, dass er sterben wird, vollzieht die letzten katholischen Rituale. Mir gegenüber korrekt und adäquat: Keine Vorwürfe, keine Forderungen. Er spricht mit mir, so wie er gerne Gespräche mit anderen Menschen geführt hat, moderat, die Neigung zu aggressiven Ausfällen kontrollierend. Weil ich die aber auch kenne, wirkt es nicht ganz ehrlich. Er hält seinen Standpunkt durch, wir können uns nicht versöhnen. Es ist das normale Unglück des modernen Menschen.
Dann das sichtbare Misstrauen mir gegenüber, die Augen verengt, als er von der Sorge um meine Mutter spricht, dass sie wegen seinem Tod durchdrehen könnte - paternalistisch. Als sie ihn tot antrifft, bricht sie in Vorwürfe aus. Kein Vertrauen.
Sein Herz war schon längst bei den Toten: viele Friedhofsbesuche, Soldatenfriedhöfe während meiner Kindheit. Pflichtgemäß bekommen die toten Angehörigen an Allerseelen ihr Weihwasser. Dabei wüsste ich von keinem konkreten Toten, um den er getrauert hat, es ging wohl mehr um die eigenen getöteten Anteile in ihm, um eine Trauer über einen Verlust, der nicht konkretisierbar war. Bei einer Spanienreise war er magisch angezogen von dem faschistischen „Tal der Gefallenen“. – Nekrophil hätte es E. Fromm genannt, dessen „Haben oder Sein“ in seinem Schrank stand. Aber Fromm ist mir zu moralisierend schwarz – grün.
Hat er Schuldgefühle gehabt? Kann er der auf dem Foto gewesen sein?
Auf einer Fahrt nach Italien – ich war 19 – geht es am Gardasee vorbei, in der Nähe, wo das Foto gemacht wurde und wo Hunderte italienischer Partisanen gestorben sind. Mein Vater meint von Männern dort, dass sie sicher bei den Partisanen waren. Er fühlt sich sichtlich nicht wohl. – In Diskussionen verurteilt er das Partisanentum als feige und hinterhältig. Ja - wenn man Partisanen erwischt hatte, wären sie erschossen worden. Den Ausdruck, den er dafür im Dialekt verwendet, ist brutal, gedankenlos und dumm.
Natürlich war er keine treibende Kraft, hat nur Gehorsam geleistet, seine „Pflicht“ getan und dergleichen mehr. Aber hat er aus der Sache gelernt? Vergleiche ich ihn auf den Fotos mit Nachkriegs- und Vorkriegszeit, fällt auf, dass er nicht mehr lacht, dass er ernst wird, nicht mehr in Gesellschaft, sondern vereinzelt. In der Gefangenschaft studiert er die Predigten katholischer Priester, die zur Abgrenzung der Katholiken vom Faschismus aufgerufen haben. „Bekehrt“ kehrt er nach Hause zurück, missioniert sich und andere. Es ist seine Vergangenheitsbewältigung. Er tut Buße, ich soll sein Opfer sein. Schuld sind nun die anderen, die er mit seinen Predigten und Briefen angreift. 1956 nach der Einführung der Bundeswehr, wählt er nicht mehr die CDU. Es ist für ihn ein Verrat am Christentum.
Schuldgefühle? Der Krieg hat seine eigene Logik. Ist mit dem Töten erst einmal begonnen, entschuldigt das schon die nächsten Toten. Die individuelle Verantwortung ist aufgehoben, also auch das individuelle Gewissen. Trotzdem baut mein Vater um sich eine Mauer. Eine Mauer der starken Selbstdarstellung, des richtigen Glaubens, der Verurteilung anderer und des uns quälenden Schweigens. Seinen Körper durch das Stahlbad, den Schrecken des pausenlosen Trommelfeuers von Monte Cassino erstarrt, kann er manchmal nicht mehr bewegen, wird abhängig von Valium, später Antidepressiva. Das Misstrauen, mit dem er sich umgibt, zeigt sozialen Ausschluss, aber in dem politischen Charakter mehr integrative Kraft als die heute übliche Teilnahme vereinzelter Individuen an der Gesellschaft bloß durch Konsum.
Wie hätte ich mich verhalten, wäre ich in eine ähnliche Situation verwickelt worden? Angenommen, ich wäre an der Erschießung Schleyers beteiligt gewesen – ein unwahrscheinlicher Fall, da ich mit dem elite- und avantgardesüchtigen Verhalten dieser Gruppen nichts am Hut hatte. Ich hätte zwei Möglichkeiten gehabt: ich könnte es rechtfertigen, politisch oder moralisch. Das wäre die einfachste und leichteste Tour. (Vielleicht hat der Faschismusschatten, der mit Schleyer auf die BRD geworfen wurde, dann zur apolitischen Liberalisierung in den 80ern beigetragen. Es wurde zur Pflicht, sich locker zu geben.) – Oder ich würde das als politischen Fehler begreifen, weil in der unseligen Tradition der Verurteilung, des Rechts und der Rache stehend. Oder ich könnte es als moralisch fehlbar begreifen, wenn der Staat um Schleyer meine Einwände gegen ihn als prinzipiell berechtigt anerkennen würden und eine Bereitschaft zur Verhandlung und Diskussion vorhanden wäre. - Soweit ein Gedankenspiel.
Übertragen auf die Situation meines Vaters heißt das: Da keine kollektive und gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der deutschen Schuld, - bestenfalls verdinglicht in Reparationen, Entschädigungen – stattgefunden hat, hat jeder seinen individuellen Schuldanteil auf andere abgewälzt. Auch aus der richtigen Wahrnehmung, dass keiner allein schuld ist. An die Stelle eines bewussten gesellschaftlichen Diskurses trat die unbewusste individuelle Verdrängung mit den Symptomen von Starrsinn, latenter Aggression, Rechtfertigungszwang, Projektion des Bösen auf andere.
Wir Kinder dieser Generation haben zwar nicht die politischen Inhalte von unseren Vätern übernommen, aber doch die Formen, die Feindschaftsbildung, die Fixierung auf das Recht, die Unfähigkeit, mit positiven Entwürfen andere zu überzeugen, weil von Misstrauen und Aggression geprägt, die Neigung zur Politik als Medium der Feinderklärung, des Kampfes und der Elitenkonkurrenz.