31.3.08

BLOCKADE

Manche glauben, sie bräuchten solche Überlegungen, wie ich sie in diesem Blog unternehme, nicht ernst zu nehmen. Sie glauben, meine Meinung wäre nur eine absonderliche Minderheitsmeinung und von daher nicht relevant. Man bräuchte sich also keine Gedanken zu machen über Alternativen zu diesem Wirtschafts- ung Gesellschaftssystem. Im Großen und Ganzen wäre ja alles in Ordnung. Die Probleme gingen nicht von der Autorität, den herrschenden Instanzen, seien es Staat oder Unternehmer aus, sondern eher von der Seite der Mitläufer, seien es Gleichaltrige oder Kollegen. (Da ist was dran. No doubt.) Und sie projizieren ein Leben mit Beruf und Konsumgütern, sehen sich als materiell gut ausgestattet und wohl versorgt an. Eigentlich hätten sie keinen Grund zu klagen. (Ohne Begriff für ihr Unbehagen, dieses KeinBockaufNichts, die in Panik treibende Angst vor jeder Änderung, die Wüste, in der sie leben.) Vorgelebt wird ihnen dieses safe life in Fernsehen und Internet. Katastrophen sind individuell verschuldet. Eine starke Persönlichkeit kann mit Beziehungsabbrüchen und Existenzbrüchen leben. Man kämpft sich durch und braucht nicht mit Unmöglichem auffallen. Mit der Religion ist auch das Verlangen nach Transzendenz und der Aufbruch zu etwas Neuem abgeschafft. Das Leben steckt in einer Sauce von Schokolade und Pommes Frittes. Daneben ist der Warenhimmel voll mit Dingen, die es noch zu erreichen gibt. So wie für die Völker der Dritten Welt die Erste das Paradies darstellt und es keinen Grund gibt, durch ein System von Arbeit, Begrenzungen und Zumutungen hindurchzugehen.
Vielleicht sind die Utopien meiner Kindheit: Religion als Versprechen von lebensvoller Ordnung, Musik als Verbindung von individueller Seele und Gemeinschaft, Wissen und Arbeit als kollektive Autonomie – obsolet geworden und können ersetzt werden durch: Job, Geld, Freizeitindustrie - statt: Leben in Unzufriedenheit, Reflexion des Unglücks, Versuche, Gedanken und Experimente von Alternativen, das „gute Leben“ wenigstens denken.
Zugegeben; ich moralisiere mit solchen Begriffen. Es ist zu klar, was besser ist. Ich werde damit meinen Kontrahenten nicht gerecht.
Aber ihr System ist auf Sand gebaut. Der Markt, der ihnen die schönen Dinge verspricht, nimmt ihnen oder anderen über kurz oder lang die Existenzgrundlagen, macht sie bestenfalls zum Teil eines langfristig gesehen überflüssigen parasitären Systems. Parasitär im Energieverbrauch, im Verbrauch von Ressourcen. Produktiv nur in den Finten, sich die Arbeit anderer Menschen anzueignen, sich in den Waren- und Geldstrom einzuklinken.

30.3.08

PENDLERPAUSCHALE

Mit CSU-Huber ist Lafontaine für die Einführung der Pendlerpauschale. Damit macht er die ökologischen Ansprüche der Linken unglaubwürdig und unterstützt die ökologisch bewusstlose Idiotie.
Die Zumutbarkeitsregelung für Arbeitslose, nötigenfalls 1 Stunde zur Arbeit mit dem Auto zu fahren, in Frage zu stellen, das hätte Sinn, ist aber nicht populär.
Es zeigt, wie das Verlangen nach Macht korrumpiert. – Schade, ich habe mehr erwartet.

19.3.08

„TEUFELSBRATEN“

Der Film hat mich bewegt. Dieser wütende Vater, ein eifersüchtiger Gott. Die keifende Mutter, der abergläubische Katholizismus. Das kenne ich so. Am Ende verlässt das Mädchen das Milieu. Sie hat ihr Milieu, vielleicht sogar ihre Klasse, verraten, kann die Destruktivität nicht mehr ertragen. Mit Elias Kultur- und Zivilisationstheorie zeichnet Frau Hahn ihre Herkunft als rückständig und barbarisch. Da ist das Essen nicht mit Messer und Gabel, da ist die körperliche Gewalt , da ist der Dreck überall, der Alkoholismus, die Unfreundlichkeit, das Unverständnis, eine zugebretterte Welt mit vielen Tabus. Auf der anderen Seite aber die Welt der Freundin aus der Mittelschicht mit dem guten Benehmen, Verständnis, Toleranz und Freundlichkeit, Schönheit, Geschmack. Und dazwischen die Heldin der Geschichte, die hochbegabt und einem natürlichem Instinkt für Kultur durch Demütigungen und Beschämungen durchgeht, um endlich mit Hilfe von Literatur, Bildung und Schule ihr Milieu hinter sich zu lassen.
Und landet dann bei einem Mann wie Dohnanyi, landet in diesem bürgerlichen Zentrum moralischer Arroganz und Heuchelei, das sich der SPD zur Machterhaltung bedient. Irgendwas ist da wohl falsch gelaufen. Die Sentiments, Ressentiments und Gefühle – die in dem Vater wabern, in den Frauen ihr Unwesen treiben – sind nicht zum aufgeklärten Gedanken geworden, sind nicht durch das Fegefeuer des Diskurses gegangen, sondern im Narzissmus der Selbstbestätigung im sozialdemokratisch manipulierbaren Warenkonsum stecken geblieben: Fernseher, Kleider, Alkohol.
Zwar finden sich im Film Versuche diesen Vater zu verstehen, aber das begangene Unrecht verunmöglicht ein Verständnis. Es bleibt nur der Weg in die Sackgasse der Distinktion, der Hochkultur, der schönen Künste. Wir haben keinen Einblick in das Leben und Arbeitsleben des Vaters, angedeutet nur wird was von Streik usw. Es ist nicht erkennbar, dass sein Leben die Kehrseite der guten Geschäfte des Bürgertums ist, der Januskopf des freundlichen Händlers. Sein Verhalten in Konfliktsituationen orientiert sich an Entweder-Oder, Freund-Feind, Alles oder Nichts, bewegt von der Angst und Bedrohung der sozialen Existenz, steht im Gegensatz zum bürgerlichen Kaufmanns- und Kulturmilieu, in dem Konflikte durch Verständigung, nicht mit Gehorsamsforderungen, sondern Verhandlungen gelöst werden. Die Kinder stehen dort als Nachfolger und Mitarbeiter im Geschäft schon fest.
Nun gut, diese Geschichte ist vorbei. Ihre Generation stirbt langsam weg. Ihre Barbarei, Unglück, Gewalttätigkeit entfernt sich von der Gegenwart wie ein brodelnder Stern und genauso entfernen sich von uns ihre Energie und ihr innerstes Verlangen nach einer wirklich menschlichen Gesellschaft, in der die anfallenden Lasten gerecht verteilt werden.

16.3.08

MARX - 125.Todestag

Ein paar Offizielle durften im SWR-Funk über Marx diskutieren. Schreckliches Niveau. Einer, der immer meint, man könne Jesus auch nicht für die Inquisition verantwortlich machen. – Natürlich kann man das. Wer aber von der Bibel schon nichts versteht, wie soll der Marx verstehen?Marx entfaltet im „Kapital“ den Begriff des Kapitals nicht nur als ökonomischen Prozess, sondern gleichzeitig als eine zunehmende Verblendung über den wahren Charakter der Mehrwertproduktion. Der Warenfetisch verschleiert mit den ökonomischen Kategorien immer mehr den Ausbeutungs- und Herrschaftscharakter. Wie dieser Schleier zerreißen soll (Mt 27,51), ist bei Marx nur unzureichend entwickelt. Ja, die ökonomische Krise, - aber die haben und hatten wir ja schon in allen Varianten – und können nur hoffen, dass keine große kommt. Denn ohne die Vorstellung von einer neuen Gesellschaft führt die Krise nur zu wachsender Konkurrenz und Barbarei. Deren brutalste Form war die kommunistische Partei.

14.3.08

KOCHKUNST

Am Beispiel von Kochen und Essen lässt sich die gesellschaftliche Verlagerung von der Produktionsgesellschaft zur Distributions- und Konsumgesellschaft betrachten.
Kochen erfordert eine gewisse praktische Intelligenz. inzwischen geht diese Kunst anscheinend in breitem Ausmaße verloren und wird zu einer Angelegenheit von Spezialisten, Kochshows, Hobby in immer teureren Einbauküchen.
Die neue Esskultur ersetzt die biedere Handarbeit des Arbeiterhaushalts durch individuellen Geschmack mit vulgären (Currywurst) oder erlesenen Varianten („mediterrane“ etc.).
Das Geld wirkt als Zaubermittel, das die Arbeit überflüssig macht. An die Stelle von Arbeit mit den eigenen Händen tritt eine magische Beziehung zur Wirklichkeit, die über das Geld. Die Wirklichkeit als Konstruktion durch Handarbeit wird ersetzt durch Rituale des Gelderwerbs. Basis dafür sind Bildungsabschlüsse, ein gewisses Auftreten, Zertifikate, ist der Kauf magischer Produkte (Handy, Filme, Spiele, Bilder), Spekulationen an der Börse, „Geschäfte“, Markenartikel mit Aura und einem „Image“, das weit über Funktion und Realität eines Produktes hinausgeht. Das, was Marx auch mit „Warenfetisch“ gemeint hat.
Während die schulische Ausbildung immer toller wird, die Spezialisierung sich ausweitet, nimmt gleichzeitig praktische Intelligenz immer mehr ab.
Es ist nicht nur der Facharbeiter, der verschwindet, sondern es gehen gleichzeitig soziale Zusammenhänge im Fortschreiten der Individualisierung verloren. Mit der Abnahme der praktischen Fähigkeiten – sei es Haushalt, Reparatur, Garten, Produktion – schwindet die Autonomie der Menschen trotz des Wachsens der Individualisierung.
Autonomie bestand darin, die Gegenstände des Alltags tendenziell selber herstellen zu können - in einem ökonomischen Umgang mit diesen Dingen. Individualisierung dagegen bedeutet die individuelle Auswahl von Marktprodukten nach Lust und Laune vermittelt über das Geld, das man sich durch Einklinken in die Geldströme über Zertifikate, Positionen „erwirbt“. Ein Telefon ist noch begreifbar und potentiell nachbaubar, ein bisschen Strom und mechanische Teile, ein Handy dagegen ist geballte und nicht mehr nachvollziehbare Intelligenz. Man kann es nur noch erwerben. Selbst für die Arbeiter in der Handyproduktion bleibt der Kern nicht mehr verstehbar.
Eine Veränderung des Bildes von Wirklichkeit geht damit einher. An die Stelle eines konstruktiven Wirklichkeitsverständnis („Machbarkeit“) tritt das sich anpassende Denken, das nicht mehr die Welt aus Teilen zusammensetzt, sondern die Wirklichkeit so wie sie ist laufen lässt – das ist ja die neoliberale Illusion – und nur versucht, die vorhandenen Bewegungen und Ströme in die privaten Häfen fließen zu lassen.
Wie kann angesichts dieser neuen Art von Wirklichkeitskonstitution Autonomie, Sozialismus, Revolution aussehen? Kann man damit rechnen, dass die neokapitalistische Welt in eine Krise gerät? Bis jetzt wird die Bankenfinanzkrise ja recht elegant gemanagt. Aber ist eine solche Krise überhaupt wünschenswert angesichts der Verkommenheit der Linken, die über keinen Begriff von freier Produktion verfügt? Deren Denken bestenfalls ordoliberal ist, keynesianisch?

Habermas hat in seinen Schriften um 68 den Primat von gesellschaftlicher Interaktion und Politik gegenüber Arbeit und Technik betont. Alle Linken haben ihn damals mit Recht des Revisionismus geziehen, ohne freilich Alternativen dazu entwerfen zu können. Letztlich sind die linken Modelle, ML oder Sponti, im Großen und Ganzen doch auf politische Konfigurationen fixiert geblieben. Die wenigen praktischen Versuche wie etwa LIP in Besançon waren ohne allgemeine Bedeutung. Der Abgrund zwischen produktionsorientierter und an der Verteilung orientierten Politik wurde nicht aufgearbeitet. Inzwischen hat sich die Produktion durch Auslagerung und intelligente Mechanisierung vollständig verändert. Die distributionszentrierte Sicht macht Arbeit, Arbeiter und die Produkte zum Teil von Geld- und Warenströmen und setzt diese Sicht durch. (Man kann das derzeit gut an der Rentendiskussion studieren). Die materielle Seite der Produktion ist zwar nicht unproblematisch – Arbeitslosigkeit, Rohstoffprobleme, Naturzerstörung – aber ihre Bedeutung ist im Hinblick auf ihren Tauschwertcharakter nur noch relativ.

Angesichts des Siegeszugs des Warenfetischs und der gleichzeitigen Lächerlichkeit von linken Produktionsutopien stellen sich Fragen nach gesellschaftlicher Gerechtigkeit, nach einer Moral, nach der Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen. Sie werden aber, da auf die Basis der individuellen Ohnmacht und Isoliertheit fixiert, nur der Beliebigkeit und der Faktizität der Vormacht und des Vorrechts überlassen. Mit der Aufgabe des autonomen Produzenten und der freien Assoziation der Produzenten wird auch der Begriff von Recht aufgegeben. Das war sogar Hermann Heller, dem Theoretiker der sozialdemokratischen Staatslehre (Sozialstaat plus Wirtschaftsdemokratie), klar. Deswegen hat er den Rechts- und Sozialstaat an die Idee einer Wirtschaftsdemokratie gebunden. Aber das war nur angedacht. Die daraus erfolgte Montanmitbestimmung – ohnehin nur in den Händen der Eliten – war nur eine misslungene Form der Produzentendemokratie. Der Gegner Hellers C. Schmitt hat sich mit der Macht des Vorrechts der herrschenden Klassen wieder durchgesetzt.

Die Produzentendemokratie war eine Art, die Wirklichkeit zu begreifen und zu beurteilen. Sie gab den Maßstab für Recht und Unrecht, Mehrwert und Ausbeutung, produktiv und unproduktiv. In der Gesellschaft, in der die „Teilhabe“ über die Distribution erfolgt, gelten ganz neue Kriterien. Einwenden ließe sich, dass auch hier die Produktion noch „Basis“ wäre. Aber es ist eine „Basis“, die ihren materiellen Charakter verliert: importierte Produkte, Arbeitsemigranten, Ölökonomie. Vorwiegend wird das „Sozialprodukt“ – einen Begriff, den man nur satirisch verwenden kann – verteilt über Staatsausgaben, Zinsen, Gewinne und erst am Ende in einem kleinen Anteil von Löhnen aus der Mehrwertproduktion.

Soll man als Linker, wo sich die Möglichkeit einer autonomen Produzentengesellschaft immer mehr von ihrer Realisierbarkeit entfernt, das Denken aufhören, die Kritik einstellen, die Utopie vergessen, das Projekt Geschichte als beendet ansehen? Oder soll man sich darauf kaprizieren, an den Ereignissen immer wieder die Sinnlosigkeit ihres Fortschritts nachzuweisen, da doch solche „Dinge“ wie Autonomie, Verantwortung, Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Zusammenleben, Versöhnung schon längst auf dem Müllhaufen der Romantik gelandet sind, weil es sich um nicht käufliche Dinge handelt? „Sozialromantik“.


2.3.08

LITTELL

Nachdem, was zuerst über Littells Buch berichtet wurde, spürte ich Abwehr dagegen, Verdacht auf die französische Neobürgerlichkeit, Bedienung der Ressentiments gegen den Boche. Auch halte ich es nicht für möglich, authentisch vom Gesichtspunkt eines anderen zu schreiben.
Beim Lesen dieser ersten 120 Seiten bin ich dann still geworden. Zuerst sind es viele dicke Sätze – man schluckt sie – dann werde ich in das Subjekt des Romans hineingestoßen: Selbstmordfantasien, jemand ist ehrlich, will die Wahrheit, will nicht verleugnen. Man nimmt ihm die Bekenntnisse, die Gefühle ab – Nichtigkeit, Ekel, Erbrechen. Gleichzeitig wird klar, dass es einen solchen SSler nicht gibt. Diese Leute hätten sich nur herausgeredet, hätten die Verantwortung abgelehnt, hätten sich als sauber, harmlos oder wenigstens banal dargestellt. Wer steckt also hinter diesem erzählenden Subjekt? Man erinnert sich an die existenzialistische Literatur; „Ekel“, „Die Fliegen“. - Ich meine: das Subjekt sind wir. Wir die Nachgeborenen, die, die überlebt haben. Was passiert ist, stellt jede positive Zukunft in Frage. Die Gerechtigkeit würde ein Ende der menschlichen Geschichte verlangen.
Dem Autor ist das wohl nicht klar. Denn sonst hätte er das nicht schreiben können. Er hat sich auf ein Spiel eingelassen und weiß vielleicht nicht, wie ernst es ist. Zumindest verraten seine Interviews nicht viel davon. Angesichts des Bösen wird das eigene Böse zum Guten.
Also doch eine Lüge? Wir werden mit der Fragilität von Moral und gutem Selbst konfrontiert. Wir hätten an die Stelle von Aue geraten können, bzw. er ist uns nicht mehr so fern.
Da sind Bildungsfetzen, irgendwelche zerstückelte Bildungstrümmer, Phrasen, Worte. Was als "humanistisch“ läuft, eine Vorform der
Barbarei. Der zentrale Punkt der griechischen Tragödie, ihr Ziel, aber war die Katharsis. Ist die noch möglich?
Jedenfalls ist „geistvoll“ oder „kultiviert“ mehr als mit Zitaten zu spielen.

Dann die Sendung in Arte. Von Großereignis ist die Rede. Stolz präsentieren sich Beteiligte. Schirrmacher, der wohl ehrlich meint, so oder irgendwie ließe sich Vergangenheit bewältigen. Dazu passt, dass der Autor die Ursache des Bösen im Staat sieht, wie Hilberg in der Bürokratie usw., im Totalitarismus. Die Beteiligten sind nur durch ein zufälliges Schicksal Verstrickte. Das ist die Lüge.
Sie besteht in der Ausschaltung des Subjekts, die im Roman vollzogen wird – ein Trick dazu ist die Homosexualität des Berichtenden. Natürlich sind die begangenen Taten Folge von für den „normalen“ Menschen wesensfremden Motiven, „ichfremd“. Aber gerade deswegen kommt der „Roman“ uns auch so nahe – weil er diese für uns fremden Motive in uns selbst anspricht. Wir sind ja auf demselben Mist wie unsere Väter gewachsen.
Aber die Bürokratie, der Staatsterror hat eine subjektive und individuelle Seite. Solange sie strukturalistisch entfremdet bleibt, oder Verantwortung negiert wird wie bei der Nazigeneration, wird diese Seite nicht adäquat bewusst. Es bleibt bei Ausreden und potentiellem Wiederholungszwang. Die Ohnmacht schafft die Allmacht.

Die Identifikation des Lesers erfolgt paradoxerweise über die Homosexualität des Roman-Ichs: „Es interessiert mich, aber es bin nicht ich“. Sie führt den Roman zu verschiedenen Aspekten. Als Homosexueller ist er außerhalb der Gesellschaft, es gibt keine Bindungen an andere Menschen. Das ist ein übles Klischee, aber es funktioniert. Dieser Status ermöglicht dem Berichtenden die Wahrheit ungeschminkt zu sagen. Durch seine Homosexualität gerät er schließlich wider Willen in den verbrecherischen Sicherheitsdienst. Darüber hinaus lässt sich durch die Homosexualität des Berichtenden die Komplexität menschlicher Beziehungen auf Männerbeziehungen und Gewalt reduzieren. Der Homosexuelle, zur ständigen Tarnung gezwungen, führt ein Innenleben, das dem Roman die Form gibt und Identifikation erzwingt. Endlich bietet – wieder ungerecht - die Homosexualität dem Roman das männliche Material zur Verfügung: Sperma, Blut, Scheiße, Gestank, Leichen. Wie überhaupt männliches Denken sich äußert in den Zahlen und Berechnungen, Beschreibung von Maschinen und Maschinerien, bürokratischen Apparaten.
Apropos Maschine: Schuld wird von Aue abgestritten und erdrückt ihn doch als Gefühl, kehrt als Sehnsucht nach dem schuldlosen Urzustand negativ wieder, als ein verstecktes Verlangen nach Jungfräulichkeit in der Spitzenfabrik, mit deren Produkte Brautkleider dekoriert werden.
Interessant wäre, ob der männliche Blick gesprengt wird, ob das Andere (Geschlecht) auftaucht. Aber ich werde das Buch nicht weiterlesen. Es fehlt mir die Perspektive der Wende, der Revolution – Umkehr -, die Katharsis, die Versöhnung. Bücher dieser Art bringen Publikum und Retter nur in Wartestellung für das nächste Auschwitz. Man gewöhnt sich daran. Es führt nicht darüber hinaus. Er missbraucht die Geschichte für eine coole Attitüde, die Konstruktion der eigenen Güte angesichts des Bösen.

Die bisher einzig authentische Annäherung an den Judenmord bleibt „Shoa“ von Lanzmann.