4.5.08

ILLUSIONEN

Die Generation der Facharbeiter stirbt aus. Sie wäre noch am ehesten der Idee einer an Autonomie orientierten sozialistischen Bewegung näher gekommen. Warum? Sie hat noch soviel Kenntnisse gehabt, mit der sie gesellschaftliche, technische und ökonomische Prozesse durchschauen konnte. Auf eine sehr vereinfachte Weise, aber praktisch orientiert und tendenziell universalistisch. Die eigene Arbeit war ein exemplarisches Modell für andere Vorgänge. So wie es bei einem Projektunterricht als Bildungsprogramm propagiert wird.
Das ist vorbei. Es war noch nie gut angesehen, spießig etc. Der Heimwerker – über ihn macht man sich heute lustig. (Ich gebe zu – manche Typen werkeln übel rum).
Oder der Kleingärtner. Ich bin in so einem Verein. Es stimmt schon; diese Mischung geht auf die Nerven. Ich kann die Ressentiments verstehen. Aber da war doch mehr dahinter: Ein Garten, Maschinen reparieren, zuhause ausbessern, selbst bauen. Diese Leute hatten nicht nur Ahnung von vielen Dingen, sie hatten deswegen auch ein politisches Interesse. Natürlich gezwungenermaßen, weil der Staat ihr Leben für Krieg und Frieden in der Hand hielt.
Was aber heute? Schaue ich mir meine Kollegen am Band an – was haben sie noch drauf? Professionell so gut wie gar nichts, es beschränkt sich auf ein paar Ritualien. Große Freude, wenn sie einen Fehler entdecken. Formal wird die Arbeit so gemacht, dass der Chef nicht klagen kann. Da aber auch er nicht wirklich durchblickt – im Großen Ganzen sind nur die externe Fachleute, Hunderte von Kilometern entfernt, kompetent – kann er an eigener Kompetenz nicht viel weitergeben. Fachlich am Qualifiziertesten ist bei mir der Vorarbeiter, aber er ist zu blöde, um Abläufe wirklich rational zu machen, er befriedigt sich mit Klugscheißereien.
Was also läuft in Wirklichkeit? Es geht um den Lohn. Mit dem kann man was anfangen. Mehr interessiert kaum. Die Menschen sind derart reduziert, dass sie sich nicht mehr dafür interessieren, was sich außerhalb ihres Horizonts abspielt, wollen nichts wissen, wie das, was sie konsumieren, hergestellt wird, welche Leute über ihr Leben bestimmen, welche Alternativen es gibt. Die einzige Alternative ist: mehr haben, fressen, kaufen etc. Keine Ahnung von Ökologie, von Politik, von Ökonomie, von Geschichte. „Eindimensionalität“ hat das Marcuse genannt.
Das Bewusstsein von Ökologie wird allgemein überschätzt. Wie beschrieben, besteht die Schule schon im Technikerbereich in der Hinsicht aus kompletten Trotteln. Ist aber keine Ausnahme, sondern die Regel. In den Zeiten von Privatfernsehen ist die Dummheit zum Allgemeingut geworden, die Tageschau zum Versammlungsort der Bildungselite. Wäre interessant, wie viel Lehrer noch Tageschau anschauen oder Zeitung lesen. Es gibt im Fernsehen eine Fülle von guten Informationssendungen. Aber es ist wie bei den Pisaanalphabeten: ist erstmal ein bestimmter Bildungsschritt nicht gemacht worden, geht der Anschluss, die Bildungsfähigkeit insgesamt verloren.
Wie geht es weiter? Die Vertrottelung wird weitergehen, Leben in Scheinwelten.
Wird die große Krise kommen, ein Ende des Autos, der Fresserei? Die Schichten werden sich abdichten. Die Proleten, jetzt nur noch oral abhängige Fettwanste al la New Orleans, werden mit Apolitik geködert, auf der Basis der asiatischen Sklavenarbeiter. Oder sie werden fallen gelassen, sie verwahrlosen. Das Bedürfnis nach gesellschaftlicher Partizipation wird aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Reichen etc. ziehen sich in ihre Konzertpaläste und Villen zurück, in ihre exklusiven Welten.

Wie wird die weitere Entwicklung des Kapitalismus aussehen?
Die Produktion und Distribution wird weiter intelligenter werden, die Tätigkeiten werden weiter differenziert werden. Der Schwerpunkt der Arbeit wird sich von der Produktion ins Marketing verlagern. Es wird eine weitere Entkörperlichung der Arbeit stattfinden, dadurch dass körperliche Arbeit an Maschinen, ausländische Sklaven abgegeben wird. (Auf der anderen Seite dann eine Renaissance des Körpers durch Sport, Styling, Outfit.) Genauso wie die Autonomie des Individuums durch seine Integration in kapitalistische Verwertungsprozesse voranschreitet, genauso wird es parallel dazu eine scheinbare Individualisierung und Differenzierung geben. Die spannende Frage ist, wodurch individuelle Differenzierung und gesellschaftlicher Verwertungszwang außer durch Geld zusammengehalten werden. Dies im produktiven Sektor.
Der in Bezug auf Mehrwert nicht produktive Sektor, also Staat, der seine Einnahmen aus den Steuern bezieht, ist notwendig um soziale Konflikte, bedingt durch das kapitalistische Monopol in der Existenzversorgung, auszugleichen und die Grundlagen der Produktion bereitzustellen. Formal zwar demokratisch, muss er aber die kurzfristigen und egoistischen Teilinteressen der Klassen und Schichten, zu Ungunsten der kapitalistischen Gesamtgesellschaft unterdrücken. Dieses Gesamtinteresse stellt sich als technokratisches Gefüge von Wirtschaftsstimulierung – neoliberal oder keynesianisch – und Sozialarbeitertechnologie dar.

Wo wird es diesem System Konflikte geben? Vermute zunächst:
- Konkurrenz der Arbeit führt zu Lohnsenkungen
- Ende der Ölreserven führt zu einer allgemeinen Verteuerung der Lebenskosten
- Stärkere Verteilungskämpfe auch bei der Umverteilung der Profite untereinander
- Bindung an die Gesellschaft geht und zerfällt über Wachstum und Produkte, läuft über internationale Ausbeutung und Rassismus
- Sozialismus wird nicht möglich sein, da individuelle und gruppengebundene Interessen allgemeine überstimmen; Kampf ist angesagt.
- Alternative ist Nichtkampf, Rückzug, vielleicht genossenschaftliche Lösungen

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